überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

Vorfahren hat ein jeder, aber die wenigsten einen verbrieften Stammbaum. bei Hunden, die rassig sein müssen, ist es selbstverständlich. hier wird dieser beim Kauf urkundlich mitgeliefert. wir Menschen kennen unsere generative Linie höchstens bis zu den Eltern unserer Erzeuger und darüber hinaus allenfalls vom Hörensagen vage. wer Genaueres wissen will, muss nach Fotos, Taufscheinen oder alten Briefen suchen. manchmal wird eine Ahnentafel gefunden. dabei ist sie wohl von zweifelhaftem Wert, weil in der Nazizeit als Ariernachweis zusammengeschustert, d.h. von den Kirchen wohlwollend deutschblütig erstellt. bei seinem Opa war es immerhin so, der derartiges als kaufmännischer Angestellter vorzulegen hatte und aus kurzsichtigen Karrieregründen der NSDAP beitrat.
wie weit kann man seine Vorfahren in Familien-Dokumenten und archivierten Kirchenbüchern zurückverfolgen? stammt man von nichtadligen Vorfahren ab, ist im günstigsten Fall im 17. Jahrhundert Schluss. kommt wer aus einer wohlhabenden Bürger-Familie, kann er die Ahnenreihe vielleicht in Hansestädten bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen. aber geht es noch weiter? mit 82 verbrieften Generationen gilt der Konfuzius-Clan als älteste sich fortsetzende Familie der Welt. solches behauptet zumindest ein Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde.
tatsächlich kann wohl niemand eine reine Abstammung über mehrere Jahrhunderte reklamieren. jedenfalls nicht in mitteleuropäischen Landen. zahlreiche Kriege und besonders der 30jährige haben zu einer Bastardisierung geführt, so dass Reinblütiges nicht wirklich zu haben ist. die Armut der verbrieften Genealogie, sie stimmt nicht, sie ist viel komplizierter. es werden dessen ungeachtet Abstammungstafeln gesammelt, da sie etwas darstellen und, wo sie vorliegen, weiterrecherchiert werden können. eine Reise in die Vergangenheit ist interessanter als die künftige Entwicklung. die meisten Familien sterben sowieso aus, derweil viele gern Single bleiben und, wo sie liiert sind, bei zu wenig richtigem Sex sich nicht vermehren.
sein Stammbaum ist einer der Kunstgeschichte, also ein frei imaginierbarer. etliche Namensverwandte und Namensvetter liegen als Berühmtheiten vor. am liebsten ist ihm darunter der Dadaist Hans Richter und nicht der auf dem Kunstmarkt super erfolgreiche Gerhard Richter. obwohl letzterer keine künstlerische Bewegung hervorgebracht hat, lediglich über Jahrzehnte hinweg in einem omnipräsenten Oeuvre Positionen der Nachkriegs-Moderne perfektionierte, war jener so kühn, sich eine Ahnenreihe von Caspar David Friedrich über Picasso bis zu Robert Rauschenberg als graphische Übersicht zu editieren. dies kann er als Unprominenter ähnlich prononciert. die vielen Richters in der Kunst liefern Bezüge zu meinen Werken und als Wahlverwandtschaften weiterführende Perspektiven, die er gern als Einflüsse verbuche. alles in allem sind es subtile Verzweigungen, so dass sie sich auf einen Stammbaum gar nicht vereinen lassen. er verschweigt also die Vorbilder lieber und überlasst künftigen Kunst- sowie Literaturwissenschaftlern jenes Geschäft.