mikado als symptom
"Die Umstände sind das Übliche, Gewohnheiten, Regeln, Etikette, Konventionen, alles das, was fraglos und fortwährend mitgeschleppt wird."
Hannes Böhringer
das Passbild in seinem Ausweis zeigt ihn als einen streng dreinblickenden Menschen. er muss sich derart selten zeigen. in Polizeikontrollen gerät er kaum und wird in Ämtern fast nie vorstellig. er meidet wegen langer Warteschlangen den Gang ins Rathaus und kann deshalb seinen Berlin-Pass für subventionierte Kulturveranstaltungen nicht verlängern. da er selten welche besuche, brauche er ihn eigentlich nicht, und wenn doch, will man den Pass gar nicht sehen, weil man ihm seine bedürftige Vermögenslage wohl ansieht. beim ec-Kartenkauf hat er seine Identität zu belegen und hofft dann auf die Pin-Eingabe, da es für ihn knifflig ist, seine Unterschrift konstant zu halten. sie ist selten die gleiche und dieselbe schon gar nicht, so einzig dasselbe mit sich selbst identisch sein kann. seine Handschrift bricht bereits nach dem dritten Buchstaben ab, wie die Fingernägel, wenn er sie nicht wöchentlich schneidet, damit sie nicht wie bei Deleuze zu tierischen Krallen heranwachsen.
während die Kontinente auseinander driften und sich der Weltraum mit Lichtgeschwindigkeit vergrössert, fällt es schwer, sich treu zu bleiben. der aufgeklärte Mensch lebt in keiner autarken Lebensmitte mehr und bei andauernden Mieterhöhungen und ausbleibenden Honorierungen umso freigesetzter mit existentiellen Sorgen. die Phantasie muss aufpassen, dass sie sich in keinem Wolkenkuckucksheim verflüchtigt. es lässt sich zwar gut mit Masken spielen, welche dafür sorgen, dass der Zugangscode zur Sozietät nicht verloren geht. dabei bleibt es ein vages Spiegeln und Abwägen, wie jemand sich selbst sieht und durch andere wahrgenommen wird. um sich auf die Schliche zu kommen, ist man auf die Erzählungen der Eltern und auf Fotos in Familienalben angewiesen, welche die Entwicklung de fakto dokumentieren. häufig muss er feststellen, dass essentielle Begebenheiten in seiner Erinnerung fehlen, oder dass er sie ganz anders im Kopf abgespeichert hat.
von einem Radiologen liess er sich mal von oben bis unten seitlich und frontal röntgen. von vorn und hinten macht es keinen Sinn, so dabei das Gleiche herauskommt. die Aufnahmen übermalte er mit Streifenmustern hyperdimensional, um den Körper mannigfaltig zu transzendieren. dafür nutzte er die Struktur eines Tesserakts, der zerlegt und auf eine Fläche projiziert wurde. letztendlich hat ihn das Ergebnis nicht überzeugt, so dass jene Arbeiten nie in eine Ausstellung kamen, obwohl eine Anfrage von einer Münchener Galerie vorlag. die übermalten Porträts verschwanden ungezeigt in einer Schublade seiner Grafikschränke. das phantasievolle Unterminieren der eigenen Wirklichkeit macht wohl erst Sinn, insofern es konsequent die Tiefe einer Sinnlosigkeit verkörpert, welche nur ein Verschwinden in sich sein kann.