überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

"ja, manchmal war es ihm, als könne das Erwachen schon Einschlafen bedeuten. er fühlte mehrere Male deutlich, dass die Station, die seine Blicke nahmen, nicht dicht bei Gegenständen lagen, sondern im Undeutlichen Ungefähren daneben..."

Dieter Roth, Das Original


weil er prägende Jahre in kleinen, drögen Städten leben musste, geniesst er inzwischen die Anonymität der Berliner Metropole. trotz fortschreitender Gentrifizierung und nachbarschaftlicher Entfremdung fühlt er sich dort geborgen. seine Ansprüche haben einen weiten Auslauf und im eigenen Kiez ihre heimeligen Hinterhofnischen. man kann sich hier mit Bekannten zerstreiten, man lernt neue kennen. für jeden Anspruch findet sich Passables, insofern kontinuierlich Menschen aus zahlreichen Ländern und Kulturen herbeiströmen.
in seiner Heimatstadt Cottbus traf er sich stets mit Gleichgesinnten, um viele Gespräche im Dauer-Loop zu führen. es war, selbst als mehr Kneipen und Szene-Clubs zu Treffpunkten wurden, mühsam einer solchen Inklusion zu entkommen. Vorurteile wurden zu nachhaltigen Spitznamen, und da jeder jeden gut zu kennen meinte, galt es fortwährend dieselben Fragen redundant zu parieren. wer in dieser Enge miteinander verwoben ist, lebt in der Illusion einer Gemeinschaft, die in einem Zueinanderpassen erhöht. jedenfalls solange man sich in die Symphonie einer eingespielten Kommunität einzustimmt. hier konnte er mit seiner konstruktiven Kunst, mit hyperdimensionalen Würfelstrukturen nicht punkten, stattdessen wurden seine traschigen Körper-Videos, die lediglich einen Zeitvertreib bedeuteten, zu Ausstellungen eingeladen. irgendwann war es nicht mehr auszuhalten und ist es auch heute nur in homöopathischen Zügen für einen Tag, wenn er Weihnachten oder an den runden Geburtstagen seiner Mutter in die ehemalige Heimat reist und dann jemandem begegnet, der von hier nicht wegkam.
er ist froh, nicht mehr dazu zu gehören. doch seine seit zwei Jahrzehnten behauptete Wahlheimat Berlin ist ein teures Pflaster. als brotloser Künstler, bekommt er ab und zu die Offerte, sich für ein Stipendium zu bewerben. es wird mit einer freien Logis angeboten, die streng genommen eine Residenzpflicht ist. schlimmstenfalls muss ein geförderter Kreativer mit anderen Kreativen in der tiefsten Provinz wochenlang auskommen, um bis in die späten Abendstunden über nichts anderes als Kunstprojekte zu reden. oder man zieht sich unkollegial zurück und lebt abstinent wie ein Mönch. eine Familie ist im Leben eines freischaffenden Künstlers nicht vorgesehen und in Stipendienzeiten unerwünscht. deshalb kann er eine solche Förderung nur unbescheiden ablehnen, oder als ihm mal ein Galerist versprach, sich für einen kreativen Aufenthalt im Schloss Balmoral zu unterstützen, diplomatisch ignorieren. der Gedanke, in einem Hinterland monatelang festzusitzen, ist ein nicht auszuhaltender Alptraum. in Berlin, wo zwar in manchem Kiez auch einzig Künstler den Ton angeben, sorgt ein unter Schutz stehendes Milieu immerhin für eine bodenständige Abwechslung.