überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

in der Schulzeit schaffte er es, die eigene Körpergrösse zu überspringen. er gehörte mit 165 Zentimetern als ein Überflieger in spe zu den Besten in seiner Klasse. ansonsten war er im Sport, besonders beim Geräteturnen und Fussballern, kein überzeugender Kandidat. lieber bröselte er für sich bass dahin. Höhenflüge gelangen ihm nur noch bei gewichtigen Büchern aus der Stadtbibliothek. sie wurden, egal ob es sich um Belletristik, Gedichte oder Fachliteratur handelte, mit Übermut durchdrungen. wie Anton Reiser war er auf der Suche nach einem Sprungbrett, mit dem er der Enge verbrämter Alltage zu entkommen hoffte. er flanierte von einem Autor zum nächsten und las querbeet das, was man in Buchläden, Bibliotheken oder von Freunden kriegen konnte. früh strebte er über sein Alter hinaus, so wie andere später über ihre Verhältnisse leben.
zuvörderst die Philosophie, zu der es ihn hinzog, beanspruchte und überforderte ihn. man wurde in der Schule reichlich mit Zitaten von Marx, Engels, Lenin und der Hegelschen Dialektik konfrontiert. das musste, um Dogmatikern nicht auf den Leim zu gehen, überprüft werden. diskutiert wurde mit ihnen nicht, da sie pädagogische Autoritäten waren und über mehr Lebenserfahrungen verfügten. dennoch meinte er als Teenie bei diversen Themen, wissentlicher zu sein als mancher Erwachsene. was er intuitiv besser wusste oder zumindest glaubte zu verstehen, behielt er freilich irgendwann für sich. ein anregender Austausch wurde mit Gleichgesinnten gepflegt, die ebenfalls auf der Suche nach Antworten auf verwehrte Fragen waren. es führte dazu, dass man zusammen das Gefühl hatte, mit den wesentlichen Büchern als Metaebene die Welt, wenn nicht umfassend, wenigstens ansatzweise zu verstehen. er wurde nach Marx mit Sartre zu einem leidenschaftlichen Existentialisten und nach der Wiedervereinigung, als er sich ihre Bücher endlich selbst kaufen konnte, mit Deleuze und Derrida zu einem überzeugten Poststrukturalisten. es gab irgendwann keine verbindlichen Autoritäten mehr und die diskutierte Sprache mutierte zu einer strategisch rhetorischen Spur von relativen Anmassungen. Zitierfähiges wurde emsig dekonstruiert, um gefühlt ideologiefrei das, was ein Anspruch versucht zu sagen, und das, was sein Text potentiell enthält, präpotent zu durchdringen.
sich die Welt zu vergegenwärtigen, verlangt einiges an Wissen, und man läuft Gefahr, den Verstand zu verlieren oder am Verstand anderer zu verzweifeln. jedes gelesene Buch ist, falls es ein kluger Mensch ambitioniert geschrieben hat, ein hoher Flug. nur wird in jungen Jahren sprachlich Gescheites, das man wenig in Bezug auf das Gelebte zu setzen vermag, arg überschätzt. nicht Bücher lehren das Schwimmen oder Tanzen, eher das gesellige Leben. dies gilt ebenso für die Praxis der Liebe, obgleich gerade hier ein Heranreifender auf literarischen Beistand angewiesen bleibt. denn am einfachsten lässt sich mit Gedichten ein Begehren ausdrücken, mit melodischen Zeilen eine andere Seele bezirzen. ist wer darin erfolgreich, dann kommt sogar schlechter Sex vom Herzen.