überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

als Maikäfer, Schnatterinchen oder Schornsteinfeger gingen sie beim Fasching zampern. der Brauch ist ein alter sorbischer, welcher besonders in der Niederlausitz eine lange Tradition hat und vor der Fastenzeit für leckere Gaben oder Geld die bösen Geister vertreibt. sie hatten dafür Ruten und Tuten, mit denen sie im Patenbetrieb der Kita scherzhaft den Erwachsenen drohten, welche keine Süssigkeiten bereithielten. es war stets ein lustiger und labender Wandertag, der in Büroräumen für Heiterkeit sorgte und den Angestellten eine willkommene Ablenkung bot.
heute treiben Kids vor Allerheiligen beim Halloween das Naschwerk ein. mit Star-Wars-Masken und blinkenden Schwertern ziehen sie von Haus zu Haus und freuen sich, wenn sie Nachbarn erschrecken oder wenigstens nerven. sie kennen es von amerikanischen Soap-Operas aus dem Kino. der Tag wird, weil man sich nach einem kitschigen Mittelalter sehnt, als ein Fest der Vampire, Geister und Monster zelebriert. Eltern staffieren ihre Kinder dementsprechend mit Kostümen aus und fotografieren sich mit ihnen vor leuchtenden Kürbissen. bei einem öffentlichen Karneval, der aus defizitären Gründen im nüchternen Preussen eingestellt wurde, können sie sich nicht derartig ausleben. turbulente Strassen-Umzüge gibt es vor der Fastenzeit nur im Fernsehen vom Rheinland oder aus Bayern zu sehen. dort ist das Bedürfnis, als Jecke aus der Vernunft auszubrechen und sich ungeschoren gehen zu lassen, nach wie vor ein berauschendes Fest.
der Mensch schlüpft nach wie vor gern in die Rolle des Narren, er verkleidet sich und mit einer exaltierten Mode ist es im Alltag auch erlaubt. nur die Garderobe wird bei vielen nicht eins mit dem Leib, sie bleibt eine fremde Haut, ein befremdlicher Dresscode. das Verkleiden versetzt erst in Erstaunen, wo es überzogen wird. für ein Faschingsfest hat er sich in der 6. Klasse mal so kostümiert, dass ihn zunächst keiner erkannte. er trug transgender-mässig einen Rock von seiner Schwester und eine Perücke seiner Mutter. das war mutig und löste eher Befremden als Staunen aus. wegen seiner langen Haare wurde er später häufig gefragt, ob er schwul sei. solches lag ihm ziemlich fern und hätte ihn stigmatisiert. es dauerte ein paar Jahre, bis er wusste, dass er es keinesfalls ist und dass eine ausgelebte Männerliebe etwas ganz Normales sein kann.
nach der Schule verkehrte er mit einigen Homosexuellen, offen bekennenden und sich bedeckt haltenden. sie waren lebenskluge Menschen, die als Nonkonformisten einen anziehenden Lebensstil verkörperten. als er sich für die Biografien berühmter Schriftsteller und Künstler zu interessieren begann, entdeckte er das Homoerotische auch als Weltkulturerbe. das Gefühl, anders zu sein, findet wohl am ehesten in der Lyrik, im exaltierten Theaterbetrieb oder in der Symbolwelt der bildenden Kunst seine Ausdrucksform. bei Aussenseitern ist das Lebensgefühl häufig das, was sich nur sublim umschreiben lässt, also nie die triviale Erkenntnis: ich bin gleich ich.