überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

das ostdeutsche Liebesleben war ein weitgehend pornofreies. unverblümt lebten sich Bedürfnisse sehr direkt aus und die Scheidungsrate lag dementsprechend hoch. unter jungen Menschen wurde allerdings mehr gekuschelt, verbal getuschelt und das Tier mit den drei Beinen meist angedeutet. in der Pubertätszeit gerieten erste Liebesabenteuer zu einer beschämenden Angelegenheit, bei der ein vorgetäuschter Orgasmus aber vom Herzen kam. theoretisch gut aufgeklärt, blieb man praktisch ein vorsichtiger Romantiker. da Frauen mit der Pille bestimmten, wann verhütet wurde, konnte eine glückliche Nacht zu einer frühen Vaterschaft führen, für die dann 18 Jahre lang Alimente zu zahlen waren. ein anheimelndes Petting wurde praktiziert, obwohl das Wort aus dem Westfernsehen erst übersetzt werden musste. alles schien erlaubt, bloss das Entscheidende nicht. als Pubertierender war man es gewohnt in einem gesellschaftlichen Umfeld der Lippenbekenntnisse und des vorauseilenden Gehorsams zu leben.
von der westdeutschen Friedensbewegung schwappte mit der Musik der Slogan "Petting statt Pershing" herüber. das trübte nach der Feier von "Make love, not war" die Stimmung, wurde aber als pazifistische Ansage gut verstanden. in der DDR gab es dafür das streitbare Motto "Schwerter zu Pflugscharen", das ein bronzenes Standbild zierte, welches die Sowjetunion der UNO geschenkt hatte. man nähte sich selbstbewusst das biblische Bekenntnis auf den Parka und musste es, als das gedruckte Symbol zensiert wurde, wieder abtrennen. bei ihm erledigte dies vor einer Reise ins Internat ein netter Bahnhofspolizist mit einer eigenen Schere. ganz väterlich entschuldigte er sich deswegen. er wollte vor Missverständnissen seiner Kollegen, also vor dem Schlimmsten bewahren. und damit hatte er nicht unrecht. wer sich der Anweisung nicht beugte, musste mit gemeinen Schikanen und Sanktionen rechnen. bei so viel Anteilnahme liess man es geschehen und trug als Ersatz wie viele andere ein kreisrundes Loch. jeder wusste, was da fehlte, und das war schwerlich zu massregeln.
in den Gemeinschaften der Kirche durften junge Menschen wie er ein Pazifist sein und trafen zudem die interessantere Liebe. bei Rüstzeiten, wo halbtags sakrale Häuser renoviert wurden, lernte er junge Atheisten aus Holland, der Schweiz und Dresden kennen und korrespondierte noch Jahre mit ihnen. das Bedürfnis nach Zärtlichkeit konnte sich in fremden Schlafsäcken ausleben und Reife-Erlebnisse teilen. es waren so intensive wie anhaltende Begegnungen. nächtelang herzte und diskutierte man miteinander. in jenem Umfeld hörte er Biermann-Platten bei dem, der sie hatte, und las verfemte Bücher auf Feten, insoweit sie nirgendwo greifbar waren. während es viele an Wochenenden in die Diskotheken zog, um dem anderen Geschlecht alkoholisiert näher zu kommen, trampte er durch das Land zu Blues-Messen oder Punk-Konzerten. mit einem Rucksack war er auf der Suche nach romantischen Freundschaften und wurde mit dem poetischen Glamour von Zufallsbegegnungen belohnt.