überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

obwohl er selten lange tief schläft, überhört er jeden Wecker. es ist nicht tragisch, da er sich für gewöhnlich den Tag selbst gestaltet und Vorhaben umdisponieren kann. muss er einem frühen Ausserhaus-Termin allerdings hörig sein, schläft er kaum nächtens. dagegen hilft kein Baldrian, kein Einschlaftee und eine Tablette schon gar nicht. er versucht sich mit dem Wecker-Ticken zu synchronisieren, was meist kurz vor dem erlösenden Klingeln gelingt. damit er es dann nicht überhöre wird zur Sicherheit das Handy mit seinem Vibrationsalarm neben dem Kopfkissen installiert.
ohne Tiefschlaf bewegt er sich an einem unausgeschlafen Morgen im Diffusen eines imaginären U-Bootes. vielleicht müssen dösige Tage so ertragen werden. manche Menschen nehmen dafür Drogen oder trinken bereits in der Früh ihr Bier. in Watte verpackt stört das Störende weniger, die Jemeinigkeit wird vor Vereinnahmungen abgeschirmt, und das Selbstbewusstsein muss kognitive Dissonanzen nicht auf sich beziehen, also mit niemandem herumlabern. als ein Introvertierter verstrickt er sich auch ohne Alkohol nicht in die schlechte Laune anderer und nimmt Stimmungen vorzugsweise innerlich wahr. hinter einer Milchglasscheibe imaginiert er als Tagträumender sein Umfeld. doch die Angst ist immens, dass es nicht lange so bleibt, wenn skrupellose Coaches nicht locker lassen und sogar kontemplative Kopfarbeiter an ein Callcenter vermitteln oder in die Rolle eines Hausmeister-Gehilfen drängen. man kann sich gegen schlecht bezahlte Hilfsjobs nicht dauerhaft wehren und ist froh, solange man noch als überqualifiziert oder zu praxisfremd gilt.
der sinnierende Flaneur kommt schnell unter die Räder einer rücksichtslosen Mobilität. für den Poeten Rolf Dieter Brinkmann war es die eines Busses, als er im fremden London beim Bummeln den Linksverkehr nicht beachtete. Unachtsamkeiten haben freilich nicht nur im Stassenverkehr, auch im Ausstellungsbetrieb verhängnisvolle Folgen. bei einem innigen Räsonieren über den Sinn der aktuellen Kunstproduktion wäre er vor einigen Jahren fast mit dem Urgestein Udo Lindenberg zusammengestossen. auf der Berliner Messe "artforum" promenierte jener stolz erhobenen Hauptes wie eine Yacht durch die Menge. jeder wich ihm rechtzeitig aus. Lindenberg hat immerhin mit einem Song die Berliner Mauer durchbrochen und dafür von ihrem Bauleiter Erich Honecker eine Schalmei geschenkt bekommen. einzig er hatte ihn nicht bemerkt und war tief versunken vor sein Fahrwasser geraten. gerade noch rechtzeitig schob ihn einer seiner Bodyguards beiseite. als pubertierender Teeny hätte er das nicht akzeptiert. er wäre forsch weiter auf ihn zugesteuert und hätte ein Autogramm verlangt.