überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

das Urbane riecht gar nicht mehr. entweder sind die Nasen zu abgestumpft oder die Luft ist wirklich gesünder geworden. ihm ist es lieber, wenn der Dreck sich schnuppern lässt, also die allgemeine Verrottung riechbar ist. wie in der DDR, wo man seine Wäsche nicht im Freien aufhängte und nachts selbst im heissen Sommer seine Fenster geschlossen hielt. die Lausitzer Luft stank nach dem Gaskombinat Schwarze Pumpe nicht nur penetrant, sie war auch getrübt vom Staub der umliegenden Tagebaue, in denen rund um die Uhr Braunkohle für kräftig schlotende Kraftwerke gefördert wurde. man mochte kaum darüber nachdenken, wie eine Lunge aussieht, die solches kontinuierlich einatmet. mit viel Zigarettenkonsum hat man dagegen gehalten und die eigene Hohlraumkonservierung betrieben. in Kneipen und Diskotheken wurde so viel gequalmt, dass man auf dem Nachhauseweg die von grossen und kleinen Schornsteinen verpestete Luft wieder als erholsam empfand.
nun wird das Schädliche überall rausgefiltert, der verbleibende Feinstaub gemessen und mit Umweltzonen bekämpft. die Autohändler freuen sich, weil der Absatz von Neuwagen steigt. aber wer als Radler hinter unzähligen Auspuffen seine Wege abfährt, lebt ungesund. immer höhere PS-Zahlen mit Allradantrieben sind unterwegs und bekommen trotzdem eine grüne Plakette für die freie Fahrt. da es niemand richtig kontrolliert, nimmt der motorisierte Verkehr in innerstädtischen Wohngebieten kaum ab und breitet sich sogar, seit ein unseliger Hauptbahnhof ganz zentral anzusteuern ist, vehement in seiner Umgebung auf Nebenstrassen aus. am schlimmsten sind die Dieselabgase aus Reisebussen, welche sich bei Stadtrundfahrten im niedrigen Gang durch enge Gassen schieben. wäscht er sich die Haare, ist das Wasser schwarz oder nach einem Tag zumindest dunkelbraun. die Luftverschmutzung ist dort am gefährlichsten, wo sie nicht auffällt.
in der postindustriellen Gesellschaft riechen Städte im Feierabendverkehr anders. der Nahverkehr mieft nicht nach Arbeitsschweiss oder Stress-Blähungen, sondern immer höher dosiert nach einer parfümierten Dekadenz. obwohl der Alltag von Umweltauflagen reguliert wird, bleibt das künstliche Riechwasser davon unberührt. die Nasen haben sich so sehr daran gewöhnt, dass sie weniger wahrnehmen und sich umso deftiger einsprühen. nur der sensible Mensch weiss, dass zu viel Duft wie zu viel Schminke verdächtig sind. das gilt ebenso für eine um sich greifende Nettigkeit. man streitet kaum noch, man geht äusserst verständnisvoll miteinander um. es ist eine aggressive Höflichkeit, ein permanent wohlwollendes Bestätigen, welches das eigene Temperament zügelt und keine Angriffsfläche zulässt. beschwert sich jemand ungehalten an einer Supermarkt-Kasse, wird er höflichst abserviert. dito ergeht es jedem deftigen Beschwerdebrief gegen Umweltsünden. konziliant werden in zuständigen Ämtern Kritiken abgeschmettert, so dass ihr die Sprache einfriert.