überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

gute Einfälle brauchen ihre Zeit, und die tauglichen stellen sich bei ihm nach Mitternacht ein. sie werden vor dem Schlafengehen bei einem oder dem zweiten Bier notiert. was davon am nächsten Tag noch lesbar vorliegt, wird in Kladden aufgehoben, auf dass es im Stillen gedeihe. benötigt er in Zeiten der Flaute Weiterführendes, werden die Aufzeichnungen kontextualisiert oder gleich in ein Manuskript eingebaut. man braucht somit nie auf ein leeres Blatt Papier oder den leeren Bildschirm starren. bei der mündlichen Konversation nutzt jene Erfindungsgabe indes wenig, so dass er hier selten schlagfertig besteht. er muss zu lange nachdenken und die richtige Entgegnung liegt ihm erst auf der Zunge, wenn das Gespräch zu Ende ist. mit seinem Drang zur Perfektion kommen Antworten einen Tick zu spät. einem Politiker wie Franz Josef Strauss ist derartiges nie passiert, da er vor seinen Auftritten alle Varianten von Provokationen erwägt und sich entsprechend mit Gegenreden präpariert hat. fanden seine vorbereiteten Antworten keinen bösen Zwischenfrager bringen, war es bestimmt enttäuschend.
wird nur mit allzu bekannten Versatzstücken kommuniziert, kommen selbst bei einer guten Vorbereitung spontane Widerreden kaum zum Zuge. in Talk-Shows, bei denen sich die immer gleichen Prominenten wie beim Sitzfussball die Bälle zuspielen, kann der Zuschauer die vorgetragenen Argumente synchron mitsprechen. das überfordert niemanden. dabei wäre es für viele Diskurse vonnöten, das Publikum mit Niveau zu irritieren. wer es zum Beispiel beim Thema Schulbildung kühn wagt, macht sich unbeliebt und wird als lästiger Quergeist nicht mehr eingeladen. Debatten haben heute plausibel zu sein und deswegen stösst der Zuschauer kaum auf telegene Diskussionen, die gegen Stereotype andenken, vielmehr auf extravagante Stars, welche sich über Ansprüche lustig machen. solches wird gern goutiert und mit Applaus honoriert. der kritische Nonkonformist ist ein unfreiwillig konservativer Mensch geworden. er beharrt auf Prätentionen, die niemand hören und mitdiskutieren will.
um dem zu entgehen, schreibt er, was er denkt, erst nach reichlichen Überlegungen auf und an manchem Tag streicht er es wieder durch. beim Schwätzeln ist es ihm egal, was herauskommt. hierbei beansprucht er keinen feinen Stil und missachtet sogar, wie es in seinen Breitengraden gang und gäbe ist, die Grammatik. das Reden geht auch ohne Denken, wie unsere Bundeskanzlerin unlängst bekannte. nur reicht es nicht jedem zur Zierde und einige trauen es sich überhaupt nicht zu. da die wenigsten Menschen Druckreifes von sich geben können, beschränken sie sich auf das geradezu Sagbare. wo es jemand tiefgreifender vermag, wird es für die Zuhörer anstrengend. so erging es ihm jedenfalls, wenn er mit dem Schriftsteller Erich Köhler zusammentraf. jener redete so wie ein Schriftsteller für gewöhnlich einen Text formuliert, während er ihn suchend aufschreibt. für manchen Satz nahm er bei mehreren Denk-Pausen und Korrekturen bis zu fünf Minuten in Anspruch. man durfte ihm da nicht reinreden, kam kaum zu Wort und verstand fast gar nichts.