überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

das Nachtleben war vor dem Millennium ein extensives. die Arbeitslosenquote hing hoch und dementsprechend wurde kollektiv gekneipt oder bis in die Morgenstunden bohémehaft Party gefeiert. der Tag danach konnte verschlafen und langsam angegangen werden, um am Abend wieder in höchster Aktivität bis zum Morgengrauen aufzuflammen. Berlin durfte stolz auf seine Armut sein, die abgesegnet vom Regierenden Bürgermeister als sexy galt. eine Techno-Szene tobte sich in leerstehenden Locations aus, welche in den Ostbezirken, wo der Aufschwung erst langsam in Fahrt kam, meist alte Fabriken waren. die hier Feiernden zelebrierten eine brach liegende Freiheit, die sie intensiv bei einpeitschenden Rhythmen und mit chemischen Substanzen auslebten. die Nächte wurde durchgefeiert, und der Tage danach faul abgehangen. für uns Schwärmer fuhren nach Mitternacht die Busse alle halbe Stunde, wo wir vor dem nächsten Event ein wenig schlummern konnten. für jeden besuchten Club bekam man einen Stempel auf das Handgelenk und beim Frühstück zeigte man sie sich voller Stolz.
die Zahl freistehender Räume für die Club- und Kunst-Szene hat sich sukzessive verringert, seitdem Makler nach der Finanzkrise intensiver den Wiederaufbau der Stadt vorantreiben. sie sind trotz steigender Grundstückspreise sehr erfolgreich, da Investoren ihr Geld vorzugsweise in Immobilien anlegen. ein grosser Protest gegen ein Kultursterben kam erst auf, als die GEZ ihre Gebühren für die kommerzielle Pop-Musik erhöhte. die Partygänger fürchteten um einen banausigen Freizeitspass und gingen auf die Strasse, was wohl alles über das Niveau der übrig gebliebenen Clubs aussagt. die Hauptstadt ist für ihr aufregendes Nachtleben international berühmt und wird immer mehr von Billigtouris überschwemmt, die ähnlich wie auf Ibiza oder Mallorca allabendlich den Ballermann geben, während sich die einheimischen Party- und Kneipengeher einzig am Samstag noch einen Rausch gönnen.
vorbei sind die Zeiten, als man ein geselliger Loser sein dürfte. aus einer abfeiernden Gesellschaft ist eine fleissig arbeitende geworden. darunter leidet besonders mein Berufsstand, der nun zuvörderst am monetären Verdienst gemessen wird. es ist viel auszustellen und zu verkaufen, um bestehen zu können. allein so sind Förderungen im Kulturbetrieb zu haben und die Anerkennung im Bekanntenkreis, der gern auf einer Vernissage smalltalkt. wer hart arbeitet, kann sich nach Feierabend nur mit tüchtigen Menschen ganz pragmatisch verständigen. dafür werden gesellige Abende im Bekanntenkreis veranstaltet. die Eltern unter den Malochern, haben selbst dafür keine Zeit. sie organisieren stattdessen fulminante Kinder-Geburtstage für ihren Nachwuchs, welcher dann stellvertretend die Sau rauslässt, wenn er mit einem Stiel zwischen den Beinen durch die Wohnung stampft und es laut Penis-Schwert nennt. derartiges habe ich unlängst erleben dürfen, als ich meinen Sohn von einer solchen Feier abholte.