überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

ins Theater geht er nicht mehr gern. man bekommt dort trashig schräge Interpretationen angeboten, seitdem nur noch sie den Zuschauer beeindrucken. die Bretter, die seit Schiller die Welt bedeuten, zerstückeln und entblössen dafür ihre Vorlagen, und dies nicht allein bei vertrauten Klassikern, auch bei neuen Stücken. in der Berliner Volksbühne sah er es eine Weile gern als Befreiung von der allzu realistischen DDR-Dramaturgie und in der Schaubühne am Lehniner Platz als ein polemisches Pendant zum traditionellen Regietheater. die Inszenierungen waren verrätselt postmodern oder multimedial aktionistisch, und manchmal beides zugleich, insofern mehr improvisierend gespielt als vorgetragen wurde. keine Handlung und keine bewusstseinstragenden Subjekte, sondern artistische Paraphrasierungen wollten bestaunt werden.
nach einigen Jahren wurde es ihm in fünfstündigen Aufführungen zu viel und wegen mancher Zombies, die sich ständig ekstatisch auslebten, zu belanglos. anregender war nach der Vorstellung das Buffet oder die Kantine, wo er oft jemand Interessanten kennenlernte. nach einer vorweihnachtlichen Performance kam er hier sogar mit dem renitenten Jonathan Meese in ein Gespräch, in dem dieser ihm gestand, keine Literatur, nur Sachbücher und Comics zu lesen. im Gegensatz zu seinen bühnenartigen Ausfällen, wo Meese ostentativ den Hitlergruss zeigt und nach einem gewonnenen Gerichtsprozess als Künstler weiter zeigen darf, ist er als Privatmensch ein ganz netter. man kann sagen: fast unerträglich nett. denn neben ihm wird jeder zu einem unhöflichen Menschen, selbst wenn er an sich keiner ist und sein will. er grüsste ihn danach noch lange, weil man sich traf, wenn er seinen jüngsten Sohn am Nachmittag vom Kindergarten abholte. Meese hat gegenüber der Kita sein Büro, das sich am Klingelschild Revolutionsbüro nennt.
als Kind faszinierte ihn die Theaterwelt als eine imposante Horizonterweiterung. in einem Schülerring besuchte er kostenlos angebotene Aufführungen, die nicht nur "Peter und der Wolf", sondern ebenso eine "Frau Luna", das "Wiener Blut" und jede Menge Brecht waren. mit diesem Programm wurde im Cottbuser Jugendstiltheater nachhaltig sein Geschmacksurteil qualifiziert und seinem bildungsschwachen Elternhaus entfremdet. seine Ansprüche reiften heran, um dem Lebensweg eine poetische Richtung zu geben. heute dienen die Bühnenhäuser vorrangig der Selbstbefriedigung ihrer Macher und weniger einer allgemeinen Bildung. der Regisseur ist mit seinen Intentionen wichtiger als das zu spielende Repertoire und es wird vergessen, dass jener Teil des Publikums langsam ausstirbt, der seine Bühnenklassiker noch im Original kennt. begegnet die heutige Jugend einem Goethe oder Büchner im Schauspielhaus, bekommt sie etwas Poppiges in Endzeitstimmung zu sehen. es wird wie beim Fernsehen überdreht und vornehmlich als spektakulärer Kitzel dargeboten.