überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

wer etwas zu meinen hat, publiziert es in diesen Zeiten ohne Lektor und sonstige Zwischeninstanzen im Internet. das ist demokratisch und häufig freisinnig authentisch. in Putins Russland wird man dafür mit Hausarrest oder, falls wer weniger bekannt ist, gleich mit einer harten Lagerhaft bestraft. in Saudi-Arabien führt eine islamkritische Aufklärung schnell zu zehn Jahren Haft mit tausend angedrohten Peitschenhieben. das kann ein Schreiber in einer Demokratie selbstbewusst anprangern, ohne dass etwas passiert. man darf alles öffentlich machen und geht kaum Risiken ein. eine Kritik muss sogar ziemlich drastisch formuliert sein, damit sie überhaupt bemerkt wird. gelingt es einem Netzaktivisten, darf er vielleicht nicht in die USA einreisen, weil er deren Geheimdienst NSA zu offensichtlich verspottet hat.
im real existierenden Sozialismus war es wichtig, nicht bei den Autoritäten im Inland anzueggen. als Journalist verfasste er hier mit einem schnell erfragten Wissen Artikel und war froh, wenn sich niemand über Fehler beschwerte. seine Texte konnte ich nicht mit einer Online-Recherche nachprüfen, einzig die Orthografie mancher Namen im Telefonbuch abgleichen. doch selbst was korrekt ganz besonnen mit einer unspektakulären Überschrift gedruckt wurde, löste Verdruss aus. mit einer Rezension über das in der DDR nicht erwünschte, im Cottbuser Theater indes auf der Probebühne unauffällig inszenierte Heiner Müller-Stück "Der Auftrag" bekam er Ärger. die Schauspieler meinten, dass sein Text das Verbot weiterer Aufführungen verursacht hätte. somit war er, der es wohlmeinend unterstützte, der Schuldige. dabei wollte er den kühnen Versuch, gegen eine allgemeine Selbstzensur aufzubegehren, unabänderlich publik machen.
einem vorauseilenden Gehorsam, welcher bei Kollegen üblich war, fühlte er sich nicht verpflichtet. übergeordnete Redakteure haben indes seine Schreibe bisweilen politisch korrekt umgeschrieben und für eine dadaistische Verwirrung gesorgt. oder es war viel vertrackter. in einem Artikel über ein Jazzfestival wurde in einer Monats-Zeitschrift aus einem "meiden" ein "melden", weil die zu dick aufgetragene Druckerschwärze den i-Punkt zu einem 'l' verschmolz. der Leser las deshalb, dass manche Jugendclubleiter Musiker mit eigensinnigen Ansprüchen melden. man hätte es nicht besser ersinnen können. obwohl dies keinesfalls zu planen war, wurde es ihm von einem Kulturagenten derart unterstellt.
das Damoklesschwert der Zensur kann im Journalismus wenig, aber offensiver in der Kunst ignoriert werden, wo sie fiktiv oder als Lyrik vage verbleibt. hier wird die Zensur zu einer inspirierenden Herausforderung. Sartres Ekel-Roman ist zum Beispiel rigoroser geworden, da ihn sein damaliger Verleger aus Angst vor Anzeigen von einigen atheistischen Anmassungen befreit hat. orientiert sich ein Textwerk zu sehr am Tatsächlichen, kann es selbst in einer demokratischen Gesellschaft zu Unterlassungsklagen kommen. so musste wegen einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten der Autor Maxim Biller letztes Jahr seinen Roman "Ezra" zurückziehen, da er zu realistisch formuliert wurde und zu wenig freie Literatur ist.