überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

als Kind war er ein fleissiger Träumer, und dies nicht nur beim Bücherlesen, auch in einer Modellbau-Arbeitsgemeinschaft. hier ging er, monatelang an einem Kajütboot werkelnd, auf imaginäre Reisen. sein Traumschiff wurde in der Tischlerwerkstatt einer Sonderschule im Verhältnis 1:5 gebaut, mit viel Ausdauer gespachtelt, glatt geschliffen, dann wieder gespachtelt und am Ende irgendwann lackiert. in den Ferien trafen sich alle Modellbauer zu Wettkämpfen, wo ihre Schiffe, mit einer Fernsteuerung auf einem See manövrierten, Bojen umfuhren oder Tore passieren mussten. lagen die Spanten richtig und kam kein Wind auf, erreichte man eine gute Platzierung. selbstgebaute Flugzeuge hatten es schwerer. schnell gingen sie zu Bruch, falls der Sender versagte oder von einem anderen mit gleicher Frequenz gestört wurde. doch nicht jene Wettkämpfe, das Erträumen von abenteuerlichen Reisen war wichtig. seine zweikreisige Modelleisenbahn vergönnte ihm solches nicht, da sie von seinem Vater aufgebaut, weiterhin von ihm beansprucht wurde. er durfte nur mit ihr spielen, wenn sein Vater die Aufsicht hatte.
der Mensch möchte als Schwärmer sich die Welt am liebsten selbst modellieren. derart ist sie einfacher zu ertragen. mit dem Computer liegt seit einigen Jahren dafür eine virtuelle Realität vor, wo die Wirklichkeit das ist, was sich mit Versatzstücken konstruieren lässt. es muss nicht selbst programmiert werden, in einer bizarren Spielewelt werden ganze Städte angeboten, die man nach eigenen Wünschen modifizieren und bewohnen kann. es ist ein bunter Schein, mit dem zwar multimedial interagiert wird, aber in den vorprogrammierten Verzweigungen einer fremden Fiktion. origineller bewegt sich der extrovertierte Mensch in den sozialen Netzwerken, wo mehr Freiheit für ausgedachte Lebensentwürfe zu haben ist. jeder kann sein Geschlecht verändern, das Alter sowieso und anonym als verkanntes Genie den persistenten Besserwisser spielen. nur wer berühmt werden will, profiliert sich mit seinem richtigen Namen und attraktiven Selfies.
insofern sich aber Akteure aller Couleur und zunehmend Marketingleute in den kommunizierenden Röhren tummeln, ähnelt der virtuelle Raum stetig mehr dem tatsächlich zu meisterndem Alltag. er wird gespiegelt und auf das reduziert, was die Erwartungshaltung einer Mehrheit als kleinsten Nenner zulässt. wer im Digitalen bestehen will, kann es wie im wirklichen Leben nur noch mit Pragmatismus und viel small-talk. das macht entweder depressiv oder führt dazu, dass man ein heimatloser Dissident wird. er alpträumt seit Jahren nächtens, dass er von einem anderen Planeten entführt wurde. auf der Erde muss er als ein Fremder unter Fremden sein Dasein fristen. tagsüber sinniert er darüber, ob der Traum sein Leben oder sein Leben ein Träumen sei. ohne Einbildung ist nichts vorstellbar, aber ohne das erlittene Leben gibt es keine Träume. jenes Dilemma ist auszuhalten, so lange kein Ufo landet.