überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

seine Haare schneidet er sich selbst mit einer Bastelschere, vorsichtig Strähne für Strähne vor dem Badspiegel. das ist billig und tragbar, insofern es vor allzu phantasievollen Kreationen der Hair-Stylisten bewahrt. bereits als Kind war ihm der Friseurstuhl ein verhasster. er sollte gerade sitzen und wurde ermahnt, wenn er den Kopf nicht in die richtige Neigung brachte. das Ergebnis fiel stets peinlich aus und nannte sich Fasson- oder Rundschnitt. nach der Jugendweihe liess er es einfach lang wachsen und es stand mir gut, obwohl seine Eltern und Lehrer unisono das Gegenteil behaupteten. er wurde von unsympathischen Menschen beäugt und höhnisch Gammler oder Langhaardackel genannt, befand sich jedoch allerorten unter gleichgesinnt unangepassten Geister. lange Haare waren in einem Mikrokosmos eine Bestätigung und bis zum Armeedienst als Distinktion aufrechtzuhalten.
erst einen Tag vor der Einberufung hat ihm ein Freund, während man eine Wodka-Flasche leerten, die Haare kurz gestoppelt. es sah am Ende wie ein Ami-Schnitt aus und er eggte damit sogleich in der Kaserne an. zu meinem Leidwesen musste er auch feststellen, dass ein fast kahler Schädel Nachteile mit sich brachte. der Stahlhelm scheuerte und die Gasmaske glitt nicht schnell genug über den Kopf, so dass er das Zeitlimit selten schaffte und es nach Dienstschluss so lange zu üben hatte, bis die Stoppuhr zufrieden war. es dauerte einige Wochen, bis das Haupt zu einem halbwegs tragbaren Schnitt kam, und er hat es nach der Entlassung aus Gewohnheit weiter so gehalten. das quartalsmässig nötige Schneiden besorgten ihm Freundinnen und massierten nebenbei seine Kopfschmerzen weg. dabei lernte er seine erste Ehefrau kennen. sie pflegte seine Frisur monatlich und er brachte ihr dafür, als man noch getrennt wohnte, die Kohlen aus dem Keller in den fünften Stock.
ein Jahrzehnt später liess er als Single in Berlin seine Haare wieder bei professionellen Dienstleistern regelmässig kürzen, damit die eigene Wiedererkennung gewahrt blieb. eines Tages hatte er allerdings genug davon. der letzte Friseur, den er aufsuchte, war ein sehr preiswerter und dementsprechend gelaunt. als er ihn höflich bat, auf seine drei Wirbel zu achten, entgegnete dieser grimmig, dass er der Cutter sei und für alles andere ein Stylist zuständig. also beschloss er selbst jener zu sein und legte sich eine leicht zu pflegende Langhaar-Frisur zu. eine auf Glanz zu polierende Glatze wäre gleichfalls leicht zu bewerkstelligen gewesen, steht ihm freilich wegen einer eierigen Kopfform nicht. seine trotz fortschreitenden Alters noch spriessende dunkle Haarpracht will nicht gestutzt werden und lässt seine Denkerstirn zudem markanter hervortreten. trägt er ein ordentliches Jacket, sieht er vornehm aus, in einer Trainingsjacke verwegen und mit einem Pullover intellektuell nach innen gekehrt. ich habe die Wahl, je nach dem wie und wann ich es will.