überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

Mann trägt wieder Bart in seiner Stadt und sehr exklusiv, wie in alten Detektivgeschichten, verwegene Schnauzer. oder ganz wuschelig, womöglich für eine islamische Bekennung. während Frauen sich nicht nur die Achselhöhlen, sondern wie im orientalischen Harem einst üblich alle Glieder rasieren und die Scham vollständig epilieren lassen. eine solche medizinische Behandlung ist bestimmt teuer, aber gründlich und dauerhaft. schon junge Mädchen akzeptieren nicht die Reife einer buschigen Behaarung. sie wollen im Bett wie die Models mit Kindchenschema beeindrucken und träumen von einem filmreifen Cunnilingus, den kein Härchen auf der Zunge trübt. die Liebe inszeniert sich extravagant sauber, so clean wie sie Hochglanzzeitschriften anpreisen. viele Männer sind genauso eitel und ganzkörperlich unbehaart wie in vorpubertären Zeiten. trotz mancher Nachteile beim Lieben mögen Frauen es gleichwohl, so der Partner nicht bloss viril männlich, sondern wie ein sattsamer Teddybär ausschaut.
die Moden wechseln und mit ihnen die Vorbilder für die heranreifende Jugend. an der Uni in Leipzig wurde es um das Millennium herum zur Regel, einen Vollbart zu tragen, selbst wenn er manchen Kommilitonen und vor allem den kleinen Schmächtigen nicht stand. keiner konnte sich dieses Phänomen erklären, selbst die betroffenen Studenten nicht. obwohl die hohe Schule nicht mehr den Namen Karl Marx trug, musste er mit seiner Physiognomie zu einem Vorbild für die hier nach Bildung Strebenden geworden sein. oder waren es profanere Gründe? wer keinen Armee- und Zivildienst absolviert, studiert gleich nach dem Abitur in sehr jungen Jahren. solches sollte wahrscheinlich verdeckt werden und die üppig wuchernde Distinktion als Rangordnung abzulesen sein. je länger einer die Alma Mater besuchte, desto verwegener fiel der Wuchs aus und desto mehr Respekt brachte er wohl ein. bei den Langzeitstudenten, die sich damals noch bis zu 15 Semester leisteten, wäre es allerdings verwegen der Bart eines Propheten geworden und für das steuerfreie Jobben zu vermessen.
er hat es nie gewagt und lediglich in der Pubertät Flaumiges auf der Oberlippe spriessen lassen. ein paar Fotos haben den Schnauzer dokumentiert und werden nicht gern beschaut, weil es peinlich aussieht. seine allmorgendliche Rasur benötig er als Gesichtsgymnastik, ansonsten fühlt er sich als Spätaufsteher unbehaglich und würde überhaupt nicht in den Spiegel schauen. vielen Generationen war eine klare Selbst-Reflexion nicht vergönnt, sie mussten sich auf einer stillen Wasseroberfläche oder auf polierten Metallen als verschwommenes Abbild mutmassen. eine identifizierbare Widerspiegelung ist für das selbstbewusste Ich aber seit Lacan unabdingbar und als Selfie inzwischen beim Kommunizieren selbstverständlich. bei ihm wird beim rasierenden Massieren zumindest die Haut straffer. eine solche Kinesiotherapie ist notwendig, damit er gestärkt in den Alltag schreite.