überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

für die Tagesorientierung beansprucht er nach dem Frühstück eine Zeitung und keinen Computer, kein Tablet oder dergleichen. doch welche Gazette soll es sein? er will auf grossen Seiten in das Weltgeschehen eintauchen und Neues divers überblicken. lange war es die taz, mit der er einen feschen Blick in die internationalen Abgründe wagte. oder eine von den volkstümlichen Regionalen mit ihren unterhaltenden Polizei- und Skandalgeschichtchen. nun erstrebt er eine konventionell tiefgängige Berichterstattung. es wird die Frankfurter Rundschau zur Gewohnheit, die vor einem Jahr Pleite ging und von der konservativ-liberalen FAZ übernommen wurde. da sie als politische Journalistik unter den Denkmalschutz fällt, darf sie sich treu bleiben und für konservativ Anspruchsvolle umso mehr am Mainstream vorbei informieren.
es gab einmal eine Zeit, da durfte er täglich eine Zeitung mit vollschreiben. er textete Beiträge für die letzte Seite eines Blattes, das in der DDR ein marginales Nischendasein behauptete. in einer Lokalredaktion verfasste er politisch Unverfängliches, was sich geschickt einer ideologischen Vermeinung verweigerte. rabulistisch bemängelte er schlechte Dienstleistungen und lobte kritische Theater-Inszenierungen. wenn eine seiner Glosse über den blauen Dunst des städtischen Busverkehrs mäkelte, hatte es überraschende Folgen. der Werkdirektor meldete sich telefonisch und versprach eine Verbesserung im Reparaturbetrieb.
nach der Wende gab es brisantere Themen und weil sich in seiner Heimatstadt besonders viele Neonazis mit ihren Sympathisanten herumtrieben, führte er mit ihrem Anführer Michael Kühnen ein Interview. fatalerweise streikte das Diktiergerät, so dass er das Gespräch aus dem Kopf rekonstruieren musste. es fiel nicht schwer, weil die Begegnung eine eindringliche war und sich um Stereotypen herum bewegte. mit wesentlich mehr Aufwand musste eine Reportage über die Räumung eines von Rechtsradikalen besetzten Hauses in der Grenzstadt Guben rekonstruiert werden. als amtierender Redaktionsleiter sollte er lediglich einen abzuliefernden Bericht per Fernschreiber nach Berlin senden. nur es lag kein Text vor. der dafür vorgesehene Kollege hatte die Fahrt zum Ort des Geschehens verpeilt und schlichtweg eine spätere Abfassung eingeplant. das für die Montagsausgabe fixierte Manuskript musste allerdings in die Druckerei gehen. er telefonierte mit dem Pressesprecher der Polizei und einem freien Fotografen, der vor Ort alles dokumentiert hatte. mit den erhaltenen Informationen fabulierte er in einer Stunde eine fertige Reportage, welche mit trivialen Details nicht geizte und stimmungsvoll Bilder heraufbeschwor. so entstehen die gern gelesenen Artikel, und im Berliner Redaktionshaus wurde sein Werk reichlich gelobt. jedoch nicht ihm, sondern seinem Kollegen brachte es zweifelhaften Ruhm ein.
heute könnte er derartiges nicht mehr stemmen. nach den ersten Sätzen würde ihn eine Schreibblockade ereilen. tagtäglich Fesches für ein breites Publikum anzubieten, vermag er kaum noch. es wird zudem für freie Schreiber, egal wie leichtfertig oder feinsinnig sie es formulieren, schlecht bezahlt. dafür ist sein Schreibtempo zu langsam geworden. an manchen Tagen schafft er es bloss noch für ein literarisches Elaborat, ein Komma zu setzen.