überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

für seine erste Freundin dachte er sich eine Geheimschrift aus. so kam er als schüchterner Junge einer Erwählten näher und konnte mit ihr in der Schule Heimeliges austauschen. man ersetzte die Buchstaben in alphabetischer Reihenfolge einfach durch Zahlen und liessen unsere Botschaften von Bank zu Bank weiterreichen. er war damals neun Jahre alt und hatte entdeckt, dass der Mensch Geheimnisse braucht, weil sie zu einem vertraulichen Austausch führen. bei seiner Freundin hat es gut geklappt, und dass man sich nicht viel zu sagen hatten, blieb ein Geheimnis.
tatsächlich ist es nicht leicht, im Verborgenen zu kommunizieren und noch weniger heute in digitalen Netzen, wo jedes Byte indiziert wird. die internationalen Geheimdienste und Werbe-Unternehmen forschen mit Cookies oder Trojanern fast alles aus. nur in der Kunst und Literatur haben sie das nachsehen, hier kommen ihre Algorithmen kaum zum Zug. sogar die meisten Menschen verstehen Imaginäres wenig und greifen vorzugsweise auf allgemein plausible Interpretationen zurück, die selten angemessen sind.
als Frühreifer versuchte er, hochgeistigen Buchwerken mit dicken Lexika näher zu kommen. er wollte, was er las, sogleich begreifen und musste dafür manchen Code knacken. ein Fremdwörterbuch war sein ständiger Begleiter und für philosophische Texte lernte er freiwillig Latein sowie Altgriechisch. genutzt hat es nicht immer, das Verständnis wuchs erst mit dem beständigen Weiterlesen, mit einem Lesen, das wahrscheinlich nie ein Ende findet. in der Lyrik fällt das Verstehen leichter, falls man das Poetische als Intimes mit anderen teilt. vornehmlich sind es Unklarheiten, die eine wahre Nähe schaffen. so avisierten in Goethes "Werther" die Liebenden mit dem Codewort: "Klopstock!" ihr Sentiment und öffneten sich sofort füreinander. inzwischen taugt der Name des gelehrten Dichters, den Lessing bereits zu Lebzeiten als einen ungelesenen Klassiker apostrophierte, nicht mehr zum Bekennen. man liest ihn kaum noch und bald wohl einzig als Fussnote.
für Intimitäten braucht es Chiffren, welche in der Kunst als Topoi immer wieder neu aufscheinen. mit ihnen kann, was sich nicht klar ausdrücken lässt, stimmungsmässig festgehalten und gemeinsam evoziert werden. Pädagogen und Schreibcoaches arbeiten allerdings daran, dass davon wenig übrigbleibt. sie erklären poetische Welten so eingängig, dass sie unbedenklich jeder versteht und bei Workshops dann das Gefühl hat, schon an einem Nachmittag wie die grossen Meister Künstlerisches zu gestalten. nichts ist vor einer solchen Profanisierung sicher, es kann noch so subtil und anspruchsvoll sein. entdeckt mit der populären Vermittlung der Mainstream Aussergewöhnliches, werden Meisterwerke zu einer banalen Mode und für sensible Interpretationen unzugänglicher. bei den eigenen Bildern ist mir ein hermetischer Anspruch, der vor dem gemeiniglichen Zugriff schützt, verbindlich. was irgendwann zu klar ist, wird glattweg ausgemustert.