petting des ich


(ein investigativer rückblick)

man könnte anders, abwechslungsreicher leben. nur wenn es allzeit möglich wäre, muss man es wiederum nicht wirklich. es reicht aus, Alternativen in petto zu haben. das gilt vor allem für das täglich in Zeitungsbeilagen und auf Plakaten aufgelistete Kulturprogramm. ihm genügt es zu wissen, dass seine Umgebung ein üppiges Angebot bereithält. jeden Abend lädt man von Montag bis Sonntag zu einer aussergewöhnlichen Lesung, Theaterinszenierung, Ausstellung oder einem Konzert ein. nur arbeitet er vorzugsweise am Tagesende, und falls nicht, will er seine Ruhe haben. er hat dann nicht unbedingt das Gefühl, wesentliche Höhepunkte zu verpassen. es wird ständig Besonderes als immer wieder Neues veranstaltet, das somit nicht mehr überzeugend.
obwohl keine vergleichbaren Kriterien für originäre Leistungen vorliegen, hat sich der Drang zum Originären zu einem Zwang entwickelt. das herausragend Aussergewöhnliche garantiert eine hohe Aufmerksamkeit, kann aber in einer Zeit des anything goes kaum ermittelt, d.h. in ein wertendes Verhältnis gesetzt werden. vor achtzig Jahren wagte es der Mathematiker George David Birkhoff mal, ästhetische Machwerke statistisch als ein Verhältnis von formalen Ordnungen und chaotischen Abweichungen zu vermessen. wie ein Naturwissenschaftler wollte er die Kunst formal berechnen. richtig akzeptiert hat seine Ergebnisse niemand, und weitere Perfektionierungen von anderen haben an dieser Ignoranz nichts geändert. der Anspruch einer quantitativen Wertbestimmung wurde freilich nicht aufgegeben, bloss in eine andere Richtung getrieben. Rankingsysteme mit ausgeklügelten Algorithmen bestimmen heute den Stellenwert einer angebotenen Kunst. gemessen wird nicht der immanente Gehalt, sondern das mediale Echo, respektive die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. nach der Anzahl von Präsentationen im professionellen Kulturbetrieb, Beteiligungen an Gruppenprojekten und Nennungen in Rezensionen werden Ruhmespunkte vergeben. je mehr Publikum sowie Besprechungen jemand für sich verbuchen kann, desto höher ist sein Stellenwert.
nur muss man es ernst nehmen und sich danach richten? gelobt wird sowieso alles, was die Kulturkritik für ein Massenpublikum anpreist. dass es sich selten um herausragende Ambitionen handelt, stört nicht. auch der peinlichste Erklärungsnotstand oder eine gespiegelte Leere werden, derweil sie ein berühmter Name autorisiert, als anregend empfunden. es liegt zu viel Künstliches und mangels anderer Perspektiven nahezu überall Ähnliches vor. auf dass es nicht auffällt, werden unentwegt Newcomer als hoffnungsvolle Nachwuchstalente verkündet. ein derartiges Angebot ist auf die Dauer wenig prickelnd. da ihm erfreulicherweise aber vieles und manchmal fast alles, was als neuartig gilt, gleichgültig ist, kann er sich noch für einiges begeistern.