petting des ich


(ein investigativer rückblick)

er ist ein Spätentwickler. er steht gegen elf auf und kann erst ab 14 Uhr arbeiten. der Tag ist es wert, dass man ihm ausgeschlafen begegnet, um ihn mit Volldampf bis zur Neige zu leeren. diesen Luxus leistet er sich von Montag bis Sonntag seit jungen Jahren. seine Söhne wollten deswegen auch mal Künstler werden, studierten aber Informatik, um später viel Geld zu verdienen. ihm ist es als Vater selten vergönnt gewesen und damit wurde er für sie ein abschreckendes Beispiel. so wie sein ständig strebsamer und müder Vater mit seinen unzähligen Überstunden für ihn eine einprägsame Warnung war.
seit seiner Mündigkeit begnügt er sich, die materiellen Ansprüche zugunsten einer müssigen Kontemplation niedrig zu halten. wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug, wusste schon Epikur zu vermelden. eine vorzeigbare Karriere hat er nie angestrebt und einen grossen Verdienst auch nicht. das Haushalten wurde auf minimal gehalten und Möbel bei Wohnungsauflösungen erstanden. neue Bücher kamen aus dem Antiquariat oder als deklarierte Remittenden in die Hausbibliothek, und falls ein Auto unabdingbar war, dann ein altes, das ich selber reparieren konnte. Mittellosigkeit bewahrt vor Luxus und dem Drang, viel Geld ausgeben zu müssen. wer fast keins zum Leben braucht, braucht fast keins.
erst seitdem Finanzexperten mit Administratoren und Controllern allerorten perfekter die Welt organisieren, wird es komplizierter und grössenwahnsinniger, ein bescheidenes Leben zu führen. man darf nicht massvoll arbeiten, sondern muss unablässig jobben, um die Miete mit ihren wachsenden Nebenkosten zu finanzieren. antiquarische Bücher und alte Möbel sind mittlerweile teure Antiquitäten, und spirituelle Selbstverständlichkeiten wie der Tabak werden wegen der jährlichen Steuererhöhung zu einem Luxusgut. das Leben muss aufwendiger gelöhnt werden und das hat fatale Konsequenzen nicht bloss für Künstler, sondern ebenso für den soliden Gehaltsempfänger. er leidet häufiger unter Burnout und anderen seelischen Störungen. die Gründe dafür sind, wie die Krankenkassen vermelden, in einem gestiegenen Leistungsdruck zu suchen. wer einem Erfolgszwang nicht gewachsen ist, bangt psychotisch um sein Einkommen.
auch Kinder sind von dieser Unsicherheit betroffen. wegen existentieller Sorgen werden sie seltener geboren, denn etliche Paare meinen nun, sie sich nicht leisten zu können. sogar die halbwegs Wohlhabenden glauben es und treten im abendlichen Fernsehen auf, wo sie in Quizsendungen eventuell Millionär werden. das Publikum freut sich über solche Kandidaten und staunte neulich ordentlich, als eine Pilotin von der Lufthansa in einer Talente-Show bekannte, dass sie sich mit ihrem Gewinn (fünfstellig) endlich eine Schwangerschaft leisten könne. im Studio waren alle sprachlos, bevor sie dann wie üblich heftig applaudieren, so dass der Moderator nicht mehr dazukam, ihr bei jenem Vorhaben viel Glück zu wünschen.