petting des ich


(ein investigativer rückblick)

mit zahlreichen Passfotos ist er als ein ernst dreinblickender Mensch älter geworden. solche Aufnahmen werden wie die Fotos von Urlaubsreisen oder Familienfeiern nicht so gern betrachtet. es haben sich Stirn- und Zornesfalten im Laufe der Jahre vertieft, auch wenn der Blick freundlich bleibt. aufgehoben wurde seit Jahrzehnten nur das, was andere geknipst haben. besser wäre es die Bilder, welche er von sich imaginiert und die seit einiger Zeit Selfies heissen, als Dokumente aufzuheben. mit dem Handy bewerkstelligen es viele wie vor einem Lacanschen Spiegel, da auf der Seite des Displays ein zweites Kamera-Auge installiert ist. sieht es beeindruckend aus, wird es sogleich an alle Kontakte online verschickt.
die Fotografie wandelt sich von einem Medium der Erinnerung zu einem kommunikativen Mittel. tunlichst originell wird die Physiognomie geknipst und permanent publiziert. niemand muss Angst haben, dass er für eitel oder exhibitionistisch gilt. fast alle praktizieren es so und deswegen sind es keine peinlichen Porträts, sondern authentische. wir leben in einer medialen Umbruchzeit, in der soziale wie familiäre Bande an Bedeutung verlieren und die solipsistische Performance wichtig wird. was bisher einzig Narcissus oder Möchtegern-Stars sich erlaubten, ist ein legitimes Prozedere geworden. er bevorzugt es für Profilfotos unscharf oder frontal von leicht unten, damit die Falten der Augenringe verschwinden. plättet sie nicht eine entsprechende Kamera-Perspektive, kann eine nachgeschaltete Software dem Gesicht den rechten Schliff verleihen und bei Rauchern die Zähne entgelben. folglich tritt man so fotogen auf, wie man es sich wünscht. gelingt es nicht, sieht es eben verwegen indiskret aus. wer sowieso bei jeder Gelegenheit auf öffentlichen Plätzen, in Einkaufszentren, vor Toiletten und in Zügen stets gefilmt wird, kann den voyeuristischen Spiess auch umdrehen und sich selbst intim entblössen.
im Medienzeitalter wird das Ich als ein wandelnder Schnappschuss virtueller. es ist dazu verdammt, immerfort zu werden und nie richtig zu sein. mit jedem dokumentierten Konterfei komplettiert es sich zu einem mosaikhaften Gesamtbild, um sich durch variierte Facetten in ein unendliches Werden zu imaginieren. bei genügender Ausdauer bleibt die Hoffnung bestehen, es könne sich als ein ausgeprägter Geschmack autonom durch den Dschungel der Beliebigkeit in eine bemerkenswerte Existenz manövrieren. ist man kein Politiker oder anderweitig prominent, muss das Gesicht nicht wiedererkennbar das gleiche bleiben. doch die Gefahr, dass es letztlich darauf hinausläuft, ist nicht von der Hand zu weisen. Selbstporträts werden sich trotz aller Bemühungen um Originalität ähnlicher. sie generieren als Selbst-Inszenierung eine modische Eigenkontrolle und produzieren Klischees, hinter denen sich jeder wunderbar verstecken kann. Baudelaire nannte es Verflüchtigung und zugleich Versammlung des Selbst. mit grünen Haaren und einer Phantasieuniform lief er als einer der ersten Dandys im 19. Jahrhundert durch die Strassen von Paris. sein Verdienst war es allerdings, eine geniale Lyrik hinterlassen zu haben.