petting des ich


(ein investigativer rückblick)

wer zu spät kommt, hat in einem minuziös getakteten Verkehr das Nachsehen. er kommt lieber bei gewichtigen Terminen etwas früher und muss nicht bangen, einen Zug zu verpassen oder abgehetzt ihn gerade noch zu erreichen. mit seiner Überpünktlichkeit und schicklichen Verspätung im Schienenverkehr verschafft er sich Karenzzeiten auf Bahnhöfen, mit denen gelassen das Treiben um einem herum beobachtet wird. anonym in einer Menschenmenge gelingt es hervorragend, ergo dort, wo keiner keinen kennt und nicht kennenlernen will. sogar in seiner Studienzeit, als er vor dem Morgengrauen mit der Bahn verreisen musste, leistete er sich diesen Luxus, um bei einem bitteren Kaffee eilende Pendler als pure Vehemenzexistenz zu betrachten. das beruhigt und unterhält besser als jede Journaille.
die souveräne Pünktlichkeit ist eine vornehme Tugend und nicht jedem gegeben. ist wer federführend Chef, kann er seine Untergebenen warten lassen. es ist seine Machtdemonstration mit der unmissverständlichen Botschaft: man ist derart massgeblich, dass man es sich leisten kann. im Showbusiness testen Stars gern ihre Popularität und beginnen Konzerte eine Stunde später. treue Fans, welche teure Eintrittskarten bezahlt haben, warten geduldig und freuen sich doppelt, wenn es endlich auf der Bühne losgeht. ist jemand nicht berühmt oder hierarchisch abgesichert, darf er sich laxe Verspätungen keinesfalls leisten. einzig eine diplomatische Viertelstunde wird im angestellten Berufsleben toleriert. wer danach erscheint und glaubt forsch auftreten zu können, gilt als unzuverlässig. es ereilt ihn schnell eine Abmahnung, gegen die er vergeblich klagen darf. so hat auch seine Mutter ihm lange keine Unpünktlichkeit beim sonntäglichen Mittagsmahl verziehen. bereits wegen fünf Minuten musste er sich Vorwürfe anhören. nachdem er ihre Kochkünste aber gebührlich gelobt hatte, wurde es wieder verziehen.
ein stetes Zufrüh- und Zuspäkommen müsste sich eigentlich ausgleichen, doch bleibt man per se im Verzug. viele Anforderungen sind erst im Nachhinein angemessen zu bedienen. obwohl jeder ein Leben lang Zeit für Verbesserungen hat, darf er nicht ewig neue Wege erkunden. eines Tages hat es sich erledigt mit der beruflichen Karriere, einem ersehnten Ruhm und dem sicheren Geldverdienen. in seinem Bekanntenkreis liegen dafür einige abschreckende Beispiele vor. wer säumig Entscheidungen auf die lange Bank schiebt, hat spätestens mit 40 das Nachsehen. es sollte zu bedenken geben, nur wenn es solches tut, ist es häufig zu spät. das Nachdenken darüber wagt wie die Eule der Minerva erst in der Dämmerung einen Überflug. der Scharfsinn stellt sich in ausgegorenen Lebensjahren ein, wenn die zu klärenden Weichenstellungen längst Biographie und nicht mehr zu ändern sind. man hat zwar die nötige Reife erreicht, allerdings seine Power verloren. es lässt sich einzig noch Vergangenes richtig einordnen und ohne Biss als altkluger Rat weitergeben.