petting des ich


(ein investigativer rückblick)

eine Spritze bekam man bei einem DDR-Zahnarzt selten und gebohrt wurde meist ohne kühlende Wasserspülung. daher waren die Zähne bei sensiblen Menschen in einem miserablen Zustand. sie scheuten die quälende Prozedur und warteten lieber ab, so lange, bis der Schmerz richtig unangenehm wurde. er hat mit diesem Hinausschieben in seiner Jugend drei Backen- und einen Eckzahn verloren. sie wurden ihm erst von den heute gut zu bezahlenden Dentisten mit Brückenkronen ersetzt. die Behandlung ist schmerzarm und freundlich geworden. dafür sind schreckliche Bilder in den Praxen zu ertragen. im schlimmsten Fall stösst man auf idyllische Landschafts- oder Tierfotos. sie sollen wahrscheinlich eine Wohlfühlatmosphäre schaffen und vorab beruhigen. ihn verstören sie eher, genauso wie die billigen Poster von den üblichen Bekannten der Kunst-Moderne, deren Originale weniger peinlich wären.
gut verdienende Zahnärzte kaufen sich lieber teure Autos, Immobilien und markige Designerklamotten. mit jenem Beiwerk können sie zeigen, dass sie tüchtig und erfolgreich sind. wenn überhaupt noch Kunst, dann werden von Wohlsituierten Bilder gekauft, die Galeristen als clevere Anlageberater empfehlen. für die Distinktion ist es nicht förderlich, auf den eigenen Geschmack zu setzen. es wird das begehrt, was Trophäe, Geldanlage und Status-Symbol zugleich ist. die grossen Auktionshäuser steigern dank solcher Bedürfnisse ihre Umsätze rasant. wegen der Finanzkrise und Abwertung von Währungen wird emsig mit Prestigeträchtigen gehandelt. die Zeiten, als nur vermögende Bildungsbürger oder Banken für ihre Sammlungen etwas kauften, sind vorbei. inzwischen ordern anonym am eifrigsten Milliardäre aus China, Russland oder arabischen Ländern populär Hochkarätiges. es muss einzig kuratorisch in Blockbuster-Ausstellungen abgesegnet und medial gut bekannt sein.
zeige, was dir gefällt, und man wird wissen, wer du bist. individuelle Präferenzen verraten mehr über einen Menschen, als ihm lieb und bewusst ist. doch sobald viele sich auf Bekanntes festlegen, ist es nicht mehr signifikant ableitbar. was die Masse gut findet, kann kein individuelles Geschmacksurteil sein. mit solch einem Konformismus wird die Kunst demokratisch kompatibler und leidlich profaner in einem zahnärztlichen Wartezimmer. bei der Vielzahl von vorliegenden Medienangeboten verlässt sich der Mensch weniger auf seine eigene Urteilskraft, er orientiert sich an allgemeinen Trends. persönliche Neigungen werden fremdbestimmter und in der Folge subjektive Ansichten zu einem gemeinen Gusto. der individuelle Geschmack ist nichts, was angeboren als Talent vorliegt, sondern eine Fähigkeit, welche durch ein langjähriges Studium von schöpferischen Leistungen erworben wird. davon ging man jedenfalls lange Zeit aus und knüpfte an diesen Anspruch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts das Mitspracherecht bei politischen sowie religiösen Angelegenheiten.