petting des ich


(ein investigativer rückblick)

mindestens einmal im Jahr ist eine lästige Erkältung und im schlimmsten Fall eine Grippe mit Fieber zu ertragen. die Glieder schmerzen und grün-gelber Schleim muss abgehustet werden. sein Immunsystem braucht jene virale Mobilmachung als Übung, und die eigene Befindlichkeit lernt den Unterschied zum ansonsten gesunden Dahinleben kennen. wer das Siechtum ab und an erfährt, kann sich besser über das Stinknormale freuen und es angemessener geniessen. Krankheiten sind Lehrjahre der Gemütsbildung, bekannte Friedrich von Hardenberg. bleiben sie aus, dann wird es eines Tages ganz schlimm. ein langgedienter Beleuchtungsmeister beim Cottbuser Theater rühmte sich dereinst vor ihm, seit über zehn Jahren nicht krank gewesen zu sein. doch irgendwann hatte es ihn so arg erwischt, dass er ein halbes Jahr für seine Genesung beanspruchte und danach ein Angeknackster blieb.
es fällt inzwischen schwer, eigene Indispositionen zu bekennen, und fleissige Angestellte trauen sich gar nicht mehr, länger als ein Wochenende ihre Unpässlichkeiten auszukurieren. sie bangen um ihren Job und das soziale Image. eine menschliche Insuffizienz passt nicht in das Bild einer Gesellschaft, in der jeder sich grossartig gestimmt immer effektiver zu beweisen hat. bei jenem Wettrennen werden beschirmende Grenzen überschritten und der innere Druck steigt mit dem Stress am Arbeitsplatz. freiwillig wird der Feierabend mit drängenden Terminabsprachen oder anderen Online-Korrespondenzen gefüllt, auf dass man für die Kollegen rund um die Uhr verfügbar ist. mit Guarana, Ginseng, Koffein sowie Laufbändern in Fitness-Studios dopt sich der Strebsame und hofft, leistungsfähiger zu werden. wer in mittleren Positionen als Karriere-Anwärter laufend Erfolge vorweisen muss, nimmt schlimmstenfalls harte Drogen wie Amphetamine, um später an den Folgen zu leiden. doch nützt es etwas? wenn alle fitter werden, bleibt sogar der Übereifrige nur ein Eifriger unter Eifrigen.
man könnte stolz auf körperliche Unpässlichkeiten sein. es geht aber leider nicht, ohne den eigenen Stolz zu verletzen. hat wer trotzdem den Mut, sich die Blösse zu geben, um gelegentlich ein Leiden zu gestehen, ist er immerhin in der Lage, seine Umwelt zu verunsichern. der Wagemutige vermag mit solchen Geständnissen den Anderen einen Schreck einzujagen, um sich von ihnen wieder mit Genesungswünschen beruhigen zu lassen. praktisch ist es auch, seine Unpässlichkeiten so zu kultivieren, dass man sie ad hoc als Ausrede für einen Rückzug parat hat. während seiner Studentenzeit hat es ein prominenter Lehrstuhlinhaber beispielgebend den pflichteifrigen Lehrkräften vorgeführt. nach jeder längeren Krankschreibung publizierte er ein Buch. bei ihm als seinem Studenten hat es selten geklappt. schon als Kind konnte er seine Mutter nur erfolglos mit einem eingebildeten Unwohlsein erpressen. wenn er nicht bei Kälte und früher Dunkelheit in den verhassten Kindergarten wollte, musste er richtig krank sein. was jedoch selten gelang.