petting des ich


(ein investigativer rückblick)

seinen Kaffee hat er eine Zeitlang von morgens bis weit in die Nacht stündlich getrunken. summa summarum waren es in Spitzenzeiten bis zu 15 Tässchen an einem Tag. ohne das Aufputschmittel Koffein ging gar nichts. wer ständig up-to-date und routiniert aufnahmefähig sein muss, ist unablässig müde, darf es aber nicht zulassen. auf dass nichts verpasst wurde, hetzte er mit Koffein aufgeputscht von einer Vernissage zur nächsten, las ein empfohlenes Buch nach dem anderen und laboriert mit dem Computer unablässig an irgendeiner Software oder Webseite. so wurde er ein kaum zu überbietender Voluntarismus inmitten einer gesellschaftstragenden Euphorie.
im Millennium-Fieber der 90er Jahre erwartete man in einem kollektiven Rausch einen Quantensprung, der alles Umgreifende verändern sollte. aussichtsreiche Visionen und richtungsweisende Theorien lagen dafür im Überfluss vor. es fanden sich überall Schwärmer zusammen, die Unternehmungen gründeten und hofften, als Glücksritter irgendwo die ersten zu sein. noch elitär über das Internet vernetzt wollten einige sogar eine Software entwickeln, die genauso klug wie der Mensch sei oder wenigstens mit ihm auf gleichem Niveau kommunizieren könnte. das erste Klon-Schaf mit dem anheimelnden Namen Dolly leitete bereits eine Ko-Evolution ein, um das biologische Dasein gezielt zu optimieren.
nach dem Ende des kalten Krieges war die Gesellschaft für Veränderungen so offen wie noch nie und es reichte aus, ungewöhnliche Ideen zu kreieren. für die Umsetzung fanden sich schnell Investoren, weil das Geld nicht mehr das war, was es substanziell zu sein hatte. gerechnet wurde mit zu erwartenden Prognosen auf dem Aktienmarkt und mit Besucherstatistiken von Web-Seiten. selbst bei erheblichen Verlusten akkumulierte an der Börse ein virtuelles Zukunftsunternehmen genauso viel Wert wie ein solides industrielles oder wurde sogar höher dotiert. die 90er Jahre waren ein fortdauerndes Versprechen auf eine greifbare Zukunft, auf eine globale Umwälzung, die als emergierender Paradigmenwechsel das Gewohnte nivellierte. mit viel Hybris wurde ein Ende der Geschichte, der Politik, der Kunst verkündet und ihren Strömungen ein post vorgehängt. das liess unterschwellig, da manche ebenso Schlimmes befürchteten, zunehmend Ängste aufkommen.
jedoch nichts dergleichen passierte, weder im positivem noch negativem Sinne. nur der servierte Kaffee wurde für Koffeinsüchtige nach der Euro-Einführung teurer, nämlich überall eins zu eins als Euro auf die Speisekarte gesetzt. nach der Jahrtausendwende entpuppten sich wegweisende Erwartungen als eine ernüchternde Harmlosigkeit und gloriose Erfindungen wie das Klonen von menschlichen Zellen als ein Schwindel. vor der Zukunft wurde nach der Zukunft, ein resignierender Futur II. die digitale Bohème zog sich allmählich aus ihren geknüpften Netzwerken zurück und feierten bloss noch langweilige Partys. die Enttäuschung ist oft die einzig wirkliche Erfahrung, die man machen kann. nicht einmal die verrücktesten Träume überleben dies.