petting des ich


(ein investigativer rückblick)

die Tage hat er am detailliertesten während seiner Armeezeit als gemeiner Soldat gezählt, und besonders die letzen 150, welche am längsten währten. sie wurden auf einem Massband nach und nach abgeschnitten, während sich die Uhr immer langsamer drehte. dies lag hauptsächlich daran, dass man das Ende des uniformierten Daseins kaum erwarten konnte und es faulenzend verbrachte. der zu beneidende Entlassungskandidat durfte aus Gründen der Ehre nach Dienstschluss überhaupt nichts Praktisches mehr tätigen. in den ersten zwölf Monaten musste noch jeden Abend das Arbeitszimmer von Politoffizieren gereinigt werden. niemand wollte dort putzen, da es zwei Hauptmänner behausten, die Alkoholiker und Kettenraucher waren. aber das Reinigen hatte einen Vorteil, in einer Schrankwand wartete eine mehrbändige Marx-Engels-Ausgabe auf ihn als Leser.
für die beiden Vordenker einer emanzipierten Gesellschaft war die Langeweile kein akzeptabler Grund für den Klassenkampf. sie haben sie nicht einmal in ihrem persönlichen Umfeld geduldet. der von ihnen favorisierte Hunger nach einem besseren Leben führt indes selten zum Revoltieren gegen die herrschenden Verhältnisse. er zwingt die Menschen eher dazu, sich in das Bestehende rigoroser einzufügen. nach radikalen Veränderungen verlangen diejenigen, die sich nirgendwo richtig einbringen können und unerträglich langweilen. das ist in der Regel eine mit sich und allem unzufriedene Jugend. der Theologe Thomas Müntzer definierte eine Langwayl treffend als die tiefste Stufe der erfahrbaren Zerstörung aller Gewissheiten. allein für die Revolte akzeptierte er sie ebenso wenig. in der zeitgenössischen Kunst ist man in dieser Hinsicht anderer Meinung. wird eine ästhetische Leere in Ausstellungen konsequent zelebriert, soll sie zur Zersetzung der gelebten Scheinwelten beitragen. das Auge bekommt kaum etwas zu sehen, das Ohr weniger zu hören, damit ein festgefahrenes Bewusstsein desillusioniert zu anderen Erkenntnissen komme.
nur will sich eigentlich niemand leer illusionieren und kann es auch nicht in einer Gesellschaft, die von einem leistungsorientierten Ethos geprägt ist. ein zur Passivität führender Müssiggang stellt eine Bedrohung dar, die sich gegen das soziale Gebot einer steten Betriebsamkeit richtet. somit wird die Langeweile selbst in der Freizeit nicht zugelassen. bei seiner Regeneration versucht sich jeder intensiv zu erholen, die freie Zeit, die das Mass der Arbeit quantitativ längst überholt hat, generiert sich zu einem pausenlosen Anspruchsphantasma. dafür hat die Kunst ein Überangebot an betörender Unterhaltung zu offerieren, das selten Bedürfnisse stillt, eher fortwährend reproduziert. der Drang nach kollektiven Sensationen wird in Ausstellungen zu einem täglichen Agens und die Jagd nach dem grossen Kick zu einer antreibenden Gewohnheit.