mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen und muss es nachträglich holen. beim Einkaufen passiert es mir andauernd, weil ich nichts aufschreibe und garantiert Wichtiges vergesse. die fehlende Milch ist dann im Feierabend-Drive in einer Schlange zu erstehen. ganz schlimm wird es, falls der Tabak unvorhergesehen zur Neige geht. im nah gelegenen Bahnhof Friedrichstrasse kann aber bis 20 Uhr und selbst am Wochenende für Nachschub gesorgt werden. meine Sorte ist dort vorrätig, da man mich kennt. als es einmal nicht der Fall war, hinterliess ich einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass mich seitdem sogar die Aushilfskräfte nicht übersehen und akzeptieren, dass ein passionierter Pfeifenraucher, nie die Sorte wechselt. seitdem muss ich mir für das inspirierende Nikotin keine Vorräte mehr anlegen.
bei meinen Einfällen geht es nicht ohne sichere Bevorratung. was nicht gleich notiert wird, geistert irgendwann unerreichbar im Unterbewusstsein herum. im Gegensatz zum digital Abgespeicherten, das nicht behalten werden muss, solange es auf unzähligen Festplatten gut verborgen lagert. besser wäre es freilich, sich wie Wieland oder Luhmann einen Zettelkasten anzulegen. für mein Laborieren sind imperfekte Gedankenfetzen unumgänglich, da das Denken nicht ohne gesammelte Ideen auskommt. findet sich nichts passendes in Notizzetteln, muss ich zwangsläufig pausieren und in Zeiten der Schreibblockade Ablenkungen auf Spaziergängen suchen.
als Lokalreporter bin ich ein bequemer Bürohengst gewesen, der in einer kleinen Bezirksredaktion für das Archiv zuständig war und es fleissig füllte. wöchentlich heftete ich relevante Zeitungsartikel nach Themen oder Namen ab und hatte weniger Zeit für das Recherchieren vor Ort. gleichwohl konnte ich es kompensieren. ich recycelte einfach alte Artikel, indem ich sie umformulierte und mit ein paar aktuellen Einschüben versah. meine Kollegen mussten mich erst fragen, falls sie im Archiv stöbern wollten, und sie trauten es sich selten oder waren nicht so skrupellos wie ich. damit keine Unordnung entstand, wurden die Karteikarten in einem Schrank eingeschlossen. ich war der Hüter und hatte immer etwas in petto, brauchte also nicht ständig die Redaktion verlassen. mit meiner Begabung zu kreativen Variationen erfüllte ich mein Soll für eine täglich zu schreibende Seite und war beliebt bei Lesern, welche sich freuen, auf Vertrautes zu stossen. zu Hause begann ich ebenso neben Büchern wichtige Texte und Zeitschriften zu sammeln. als ich nach dem Mauerfall mit dem Lesen nicht mehr hinterherkam, wurde für spätere Zeiten zahlreich Gedrucktes abgelegt. ich hortete Material für zu schreibende Essays oder Buchprojekte und hoffte vergeblich mit meinem Fundus in künftigen Jahren besser bestehen zu können.