mikado als symptom
was man nicht im Kopf hat, hat man in den Beinen und muss es nachträglich holen. beim Einkaufen passiert es ihm andauernd, weil er nichts aufschreibt und garantiert Wichtiges vergiesst. die fehlende Milch ist dann im Feierabend-Drive in einer Schlange zu erstehen. ganz schlimm wird es, falls der Tabak unvorhergesehen zur Neige geht. im nah gelegenen Bahnhof Friedrichstrasse kann aber bis 20 Uhr und selbst am Wochenende für Nachschub gesorgt werden. seine Sorte ist dort vorrätig, da man ihn kennt. als es mal nicht der Fall war, hinterliess er einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass ihn seitdem sogar die Aushilfskräfte nicht übersehen und akzeptieren, dass ein passionierter Pfeifenraucher, nie die Sorte wechselt.
bei seinen Einfällen geht es nicht ohne sichere Bevorratung. was nicht gleich notiert wird, geistert irgendwann unerreichbar im Unterbewusstsein herum. im Gegensatz zum digital Abgespeicherten, das nicht behalten werden muss, solange es auf unzähligen Festplatten k lagert. besser wäre es freilich, sich wie Wieland oder Luhmann einen Zettelkasten anzulegen. für das eigene Laborieren sind imperfekte Gedankenfetzen unumgänglich, da das Denken nicht ohne gesammelte Ideen auskommt. findet sich nichts passendes in Notizzetteln, muss man zwangsläufig pausieren und in Zeiten der Schreibblockade Ablenkungen auf Spaziergängen suchen.
als Lokalreporter ist er ein bequemer Bürohengst gewesen, der in einer kleinen Bezirksredaktion für das Archiv zuständig war und es fleissig füllte. wöchentlich heftete er relevante Zeitungsartikel nach Themen ab und hatte weniger Zeit für das Recherchieren vor Ort. gleichwohl konnte er dies kompensieren. er recycelte einfach alte Artikel, indem er sie umformulierte und mit ein paar aktuellen Einschüben versah. seine Kollegen mussten ihn erst fragen, falls sie im Archiv stöbern wollten, und sie trauten es sich selten oder waren nicht so skrupellos wie er. damit keine Unordnung entstand, wurden die Karteikarten in einem Schrank eingeschlossen. er war der Hüter und hatte immer etwas in petto, brauchte also nicht ständig die Redaktion verlassen. mit seiner Begabung zu kreativen Variationen erfüllte er sein Soll für eine täglich zu schreibende Seite und war beliebt bei Lesern, welche sich freuen, auf Vertrautes zu stossen. zu Hause begann er neben Büchern wichtige Texte und Zeitschriften zu sammeln. als er nach dem Mauerfall mit dem Lesen nicht mehr hinterherkam, wurde für spätere Zeiten zahlreich Gedrucktes abgelegt. er hortete Material für zu schreibende Essays oder Buchprojekte und hoffte vergeblich mit seinem Fundus in künftigen Jahren besser bestehen zu können.