mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

wer sich täglich wiegt, hält mit einem unabänderlichen Body-Mass das Gewicht. er nimmt nur ein kleines bisschen zu, das eventuell eine Ungenauigkeit der Waage ist. so setzen sich Veränderungen schleichend durch, wie die Falten im Gesicht, die erst im Spiegel bei hartem Licht aufscheinen. also in einem fremden Bad, bei einer anderen Beleuchtung, so dass sich das Selbst auf einmal deutlicher erkennt. bei Bekannten, die man lange nicht gesehen hat, passiert es häufig, dass er sie übersieht, aber sie ihn nicht. so erfährt er dann unverhofft nach einer schüchternen Begrüssung, wer da so alt und feist geworden ist, wenn Wangen schwer über einem Doppelkinn hängen, während hinter einer Brille die Lider der Augen herabgesunken sind. nur der Name ist der gleiche geblieben und auch die erinnerbaren Geschichten.
mit der entsprechenden Software kann der Altersprozess für die nächsten 20, 30 Jahre simuliert werden. man importiert dafür ein Bild und nach ein paar Sekunden schaut es gruselig vergreist aus. eigentlich verjüngt sich der Mensch lieber, indem er sich mit dem Bearbeitungsprogramm Photoshop geliftet in der digitalen Öffentlichkeit präsentiert. lediglich bei Ausweisen und Pässen, die eine beschränkte Gültigkeit haben, hat jeder authentisch aktuell auszuschauen. bei alten Freunde muss ein abgespeichertes Bild ebenso regelmässig abgeglichen werden. gelingt es nicht, sind sie Unbekannte geworden. bei denen, die keine altersbedingten Falten vorweisen können, weiss man, dass sie sich an Salzstangen auf Partys festhalten.
bei ihm sind Augenringe sein ständiger Begleiter, er trägt sie als ein Alleinstellungsmerkmal, sogar wenn er ausgeschlafen fidel ist. manche halten ihn deswegen für einen Junkie. dabei verkünden seine Augenringe wie die Jahresringe bei Bäumen eine Reife und zeigen, dass ein Lebenswerk mit Mühen errungen wurde. gut sichtbar mit Runzeln sind sie der beste Beweis dafür, dass man sich angestrengt hat beim Grübeln und Kunstschaffen. wer keine vorzuweisen hat, hat nichts erlebt und wenig zu vermelden. eine originäre Einzigartigkeit darf über ihre Verhältnisse leben und Wunden ungeschönt als eine Wahrhaftigkeit, als ein ehrlich erworbenes Gut vorzeigen. sieht wer wie ein Popstar immer frisch aus, sollte er in Casting-Shows gehen und mit Perfektion glänzen. wer unergründliche Ansprüche hat, arbeitet sich an seinen Leiden und an denen der Kunstgeschichte ab. wird es konsequent betrieben, beeindruckt es oder es erregt Mitleid. denn aus dem einen folgt nicht zwangsläufig das andere. Gesichter und Lebensansichten sind ohne einen Abschluss vielfältig interpretierbar.