mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

der unpopuläre Künstler muss, um arbeiten zu können, unentwegt irgendwelche Anträge stellen. detailliert hat er zu begründen, warum Fördergelder nötig sind und für was genau. das schafft und reproduziert eine Abhängigkeit, die Rollstuhlfahrer auf barrierereichen Wegen nur zu gut kennen. in Dresden lernte er mal einen kennen, der partout kein Empfänger von fremden Hilfen sein wollte. er bewegte sich so virtuos mit seinem Untersatz, dass ein Passant sogar auf einer Treppe nicht mithalten konnte. versuchte ihm jemand beim Ein- oder Aussteigen unter die Arme zu greifen, schrie er ihn baff an: Hilfe, man will mir helfen! immer ging es darum, zu beweisen, dass er trotz einer Querschnitts-Lähmung alleine klar kam. was ihm als athletischen Mann, der täglich in Schwimmbädern seine Muskeln trainierte, auch fast immer gelang. doch genau jene energische Umtriebigkeit ist ihm einst zum Verhängnis geworden. als Bergsteiger hatte er zu viel riskiert und war ungesichert in der Sächsischen Schweiz bei einem Alleingang abgestürzt. dabei wurde seine Wirbelsäule unreparabel angeknackst.
der Mensch sollte nicht allein auf sich und eine zu erwartende Wertschätzung angewiesen sein. er muss es allerdings in einer Gesellschaft, die das soziale Verhalten zu einer individuellen Abwehr gerinnen lässt. die häufig gestellte Frage, woher der ganze Hass kommt, der sich in der anonymen Kommunikation, im Strassenverkehr und an Wahlurnen Bahn bricht, lässt sich nicht zuletzt mit den Auswüchsen einer Unterwerfungskultur erklären. das Helfen und Danken ist eine Distinktion geworden, mit der wie in einer höfischen Gesellschaft eine Distanz aufgebaut wird. wer darin bestehen will, muss ständig Leute aushalten, welche mal supernett sind und dann wieder ziemlich aggressiv. moralische Gesinnungen bestimmen das allgemeine Verhalten und sorgen für einen enormen Konformitätsdruck, während das Widerständige dazu verurteilt ist, in einer Leere zu kreisen.
er beobachte sich deshalb intensiver und verharre vorsichtiger in geselligen Runden. spontane Meinungen werden Palavern zurückgehalten. wer sich unnötige Rechtfertigungen von Moralaposteln ersparen will, bleibt lieber in Gesprächen mit Unbekannten unverbindlich zurückhaltend. und da es viele so halten, werden selbst in meinem Umfeld, wo lange Zeit die schlechte Laune zum guten Ton gehörte, Poltergeister distanzierend höflicher. der eingefleischte Berliner traut sich nicht weiterhin, seine authentische Laune zu einem Imperativ zu erheben. er wird sogar auf Hinweisschildern in der U-Bahn dazu aufgefordert, nett und freundlich zu sein. dies sorgt für Wortkargheiten nicht nur im täglichen Nahverkehr. man kann sich nicht mehr mit anderen reiben, man muss sich selbst abkanzeln, in stillen Gesprächen all das verarbeiten, für das es keine Erklärung und kleine Erlösung gibt. in Zeiten, in denen wenig selbstverständlich ist, weil zu vieles stresst.