mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

Paragraphen waren in der DDR dehnbar und deswegen wird der ostdeutsche Sozialismus häufig ein Unrechtsstaat genannt. ob zu Recht oder Unrecht, ist unter Juristen umstritten, da nicht wie aktuell in der Türkei oder in Putins Russland eine Judikatur willkürlich agierte. nur hin und wieder wurden Gesetze bei politischen Denunziationen ignoriert, an der deutsch-deutschen Grenze bereits das Planen eines illegalen Grenzübertritts bestraft und im Strafrecht kleine Vergehen zu abschreckende Exempel statuiert. als er im Journalistenberuf mal das Schreiben von Gerichtsreportagen ausprobierte, offenbarte sich ihm ein ziemliches Elend. um sich auf die Arbeit einzustimmen, überflog er Gerichtsakten von abgeschlossenen Strafverfahren und war entsetzt über die gefällten Urteile. ohne den psychischen Zustand oder die Promille im Blut der Täter zu berücksichtigen, ahndeten die Richter Gewalttaten mit langen Haftstrafen in Gefängnissen, welche schon von Aussen ein Grauen waren. eine Frau, die stark alkoholisiert ihren Mann mit einer Wodka-Flasche erschlug, nachdem dieser sie wiederholt misshandelt hatte, wurde wegen Mordes verurteilt. ebenso drei Fleischerlehrlinge, die nach einer Kneiptour einen Kollegen im Streit mit Messern tödlich verletzten. solches las ich häufig und brach seine Recherchen ab. Gerichtsentscheide zu kritisieren, traute er sich nicht, denn dazu fehlte mir das entsprechende juristische Wissen.
in seiner Heimatstadt gab es mitten in einem Wohngebiet einen Knast, in dem auch Dissidenten einsassen. in den frühen Abendstunden bellten hier die Wachhunde unerbittlich drohend. offiziell gab es keine richtigen Täter, nur Abweichungen vom Ideal der sozialistischen Persönlichkeit und in der Krimi-Serie Polizeiruf als Pendant zum westdeutschen Tatort fast ausnahmslos unspektakuläre Diebstahldelikte. ganz anderes bekam er im Bekanntenkreis zu hören, wo mancher durch Verhöre oder Knast-Erfahrungen traumatisiert innere Narben mit sich herumtrug. ganz übel erging es einer Freundin, die nach einer Tramp-Tour wegen einer versuchten Republikflucht in der Untersuchungshaft landete, obwohl sie nie dergleichen in Erwägung gezogen hatte. sie war leider den falschen Leuten begegnet, nämlich solchen, die es wirklich vorhatten, und als man sie erwischte, zur Entlastung eine Anstifterin brauchten.
die juristische Praxis änderte sich gravierend mit der Wiedervereinigung. für den Frontmann einer Cottbuser Band, die mit einer Bruce Springsteen-Adaptation eine Zeit lang Erfolge feierte, war dies eine wichtige Deadline. jener hatte stark alkoholisiert nach einem Konzert sein Auto gegen einen Brückenpfeiler gerammt. der Manager der Musiker verunglückte auf dem Nebensitz dabei tödlich. nach DDR-Recht hätte der Fahrer dafür ins Gefängnis gehen müssen, gemäss dem kommenden bundesdeutschen war er wegen seiner Trunkenheit nicht schuldfähig. der Prozess wurde für ihn so lange aufgeschoben, bis die Tat als Bewährungsstrafe verhandelbar war. die Freundin eines Bekannten musste sechs Jahre zuvor wegen eines gleichen Deliktes 18 Monate in einem DDR-Gefängnis verbringen. danach war sie kaum wiederzuerkennen eine anders gestimmte.