überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

es knallt und kracht wieder ohrenbetäubend. wir haben Silvester, oder heisst es Sylvester? auf jeden Fall gilt es einen Jahreswechsel zu feiern, an dem festzustellen ist, dass ich mein Aufgabenpensum nicht erfüllt habe. zu vieles Geplante ist unvollendet geblieben. es muss deshalb weitergehen mit dem Dezember. ich bestehe wie die Zarin in dem sowjetischen Märchen "Die Zwölf Monate" darauf, das scheidende Jahr um einige Wochen zu verlängern. in Zeiten der Stagnation habe ich nichts anderes als neue Wörter wie Nichtswurf, Streckschweigen und Stehenbleibergang erfunden. und weil mir häufig nichts Besseres zugefallen ist, könnte ich mit solchen semantischen Erfindungen ein kleines, leidliches Buch füllen. es wäre ein Buch der permanenten Unverbindlichkeit, das sich einer syntaktischen Sinngebung völlig verweigert und natürlich niemand lesen würde.
beim Schreiben werden zwar gemeinhin nur Silbenfolgen variiert und es muss nicht sofort einen Sinn ergeben, aber grundsätzlich verfasst man Texte, um verstanden zu werden. das Zeilenwerk hat trivial zu sein, so dass es für jeden zugänglich ist, und zugleich nonkonformistisch eine Spur verzeichnet, die sich vom bereits Vorliegenden einfallsreich abhebt. auch wenn es immer aussichtsloser scheint, da groben Schätzungen zufolge als Weltkulturerbe oder literarische Ramschhalde weltweit über 129.864.880 indizierte Bücher vorliegen und exponentiell Fortlaufendes veröffentlicht wird. selbst prominente Teenys schreiben schon ihre Memoiren oder lassen sie sich von Ghostwritern formulieren. wer keinen renommierten Namen hat, publiziert mit vielen Adjektiven sowie small-talk-Dialogen eBooks als Eigenverleger und hofft, mit umfassender Eigenwerbung ein Bestseller-Autor zu werden. jene Bücher sind zu einem wuchernden Virus mutiert und werden wohl die Literatur in einem weissen Rauschen auflösen.
wer heute intim Entbergendes zu sagen hat, kann es getrost inmitten eines vorliegenden Überangebotes von oszillierenden Bekenntnissen online publizieren. diese Öffentlichkeit ist der sicherste Ort für Geheimnisse, und falls ein Text gedruckt wird, bleibt er bei einem inflationären Verlegen weitgehend unzugänglich, sogar für Nachrichtendienste, die primär mit ihrer Software das Digitale ausspähen. was man so aufschreibt, ist eine Flaschenpost mit einer zufällig jemand zufallenden Botschaft. sie wird nie eine letzte sein, indes die Möglichkeit formulierbarer Sätze schier unendlich ist und sogar unzähliger als die Menge von anordbaren Zuständen im Universum. die mit Buchstaben transzendierte Welt ist grösser und umfassender als die tatsächlich bestehende. das potentiell Auszudenkende übersteigt das Reale, da es in Worten sich wie in Borges Bibliothek zu Babel mit Anagrammierungen, und in Bildern durch permutative Farbvariationen, unaufhörlich potenzieren kann. obwohl sich Unendliches widerspruchsfrei erfassen lässt, überfordert es immerfort die Wahrnehmung, da kaum noch jemand weiss und erklären kann, um was es überhaupt in einer sich vervielfältigenden Welt geht.