überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

was einem alles entgehen kann, selbst wenn man es genau vor den Augen hat. für Details und vor allem für das Kleingedruckte benötige ich seit zwei Jahren die Dioptrien einer Lesebrille. meine ersten Linsen, die mir meine Eltern mit einem Optik-Baukasten zum zehnten Geburtstag schenkten, waren höher dimensioniert und sollten mein Interesse für einen Ingenieur-Beruf wecken, und es gelang ihnen nicht. doch mit dem Geschenk konnte ich mir wahlweise ein Mikroskop oder ein Fernrohr zusammenstecken. durch letzteres inspizierte ich in den klaren Abendstunden den Mond und, nachdem es langweilte, die offenen Fenster der gegenüberliegenden Nachbarschaft. profan Kleinteiliges wie den Schmutz unter meinem Fingernagel versuchte ich mit dem Mikroskop zu ergründen. aufregend wurde es, als ich borstige Milben in Staubflusen entdeckte, von denen unzählige in meinem Kinderzimmer herumwuselten. und da ich auf den Geschmack gekommen war, züchtete ich mir für weitere Untersuchungen in Petri-Schalen Schimmelpilze, die sich wie Blumen bizarr ausformten und meine Mutter überhaupt nicht begeisterten.
zwischen dem Makrokosmos einer intimen Nachbarschaft und einem Mikrokosmos von sporigen Parasiten lag in meiner Kindheit das profane Alltägliche. als Tagträumer habe ich diesen Bereich gern ausgeblendet und dementsprechend leidlich bewältigt. der Metaphysiker Lotze hat in seinem dreibändigen Mikrokosmos die Welt ausführlich als konstituierte Sinnganzheit beschrieben, in die wir Menschen als Fremde hineingestellt sind. da das absolute Sein als höchstes Gut auch für ihn im Alltäglichen nicht überzeugend waltete, griff er auf den Wert-Begriff aus der Nationalökonomie zurück. er sollte das Seiende qualifizieren, damit alles im täglichen Miteinander einen Wert hat und eine entsprechende Geltung beanspruchen darf.
so sollte es auch für meine Arbeitsleistungen gelten. dann müssten Ergebnisse um keine Geltung buhlen und immer ausgefallenere Strategien entwickeln, mit denen sie sich gegen konkurrierende Angebote prononcieren. es reicht nicht, wenn sie beeindrucken, sie haben populär zu sein, damit sie eventuell, wie mir unlängst ein Steuerberater empfahl, Gutverdienern so interessant erscheinen, dass sie Bilder als Ausgabe beim Finanzamt deklarieren wollen. dafür mag ich mich allerdings nicht hergeben. der einstige Ruhm, den ich mit hyperdimensionalen Chaos-Strukturen in Kompositionen erreichte, ist verblasst und kaum noch bekannt. im reifen Alter stemme ich nicht mehr viel und brüte nicht nächtelang über Probleme. ich schone die verbleibenden Ressourcen, wo es geht, und lege Wert auf Präzision. bis zum 30. Lebensjahr wurde vieles exzessiv ausgelebt, danach aufgeschrieben oder imaginiert und seit einiger Zeit nur noch resümierend interpretiert. meine Arbeiten werden perfekter, also einfacher und weniger. das Bauchgefühl meidet aus Rücksicht auf weitere Abwicklungen das Schwierige und das sehr Schwierige generell, während vieles Leichte zu seicht erscheint.