überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

nicht mit dem Ankreuzen von Parteien und Abgeordneten, sondern beim Einkaufen kann noch richtig gewählt werden. es liegt in den Discountern ein Anerbieten für jedes Klientel vor, das bis spät in den Abend verlockt. der Kunde ist, egal wie vermögend, sogar in meinem Weddinger Kiez egalitär ein König, der stets zuvorkommend hofiert wird. also gehe ich jeden Tag einkaufen und spare mir die Anschaffung eines grossen Kühlschrankes. das morgendliche Shoppen schmeichelt der Seele und stimmt, wenn man nicht Schlange stehen muss, gut in den Tag ein. an heissen Sommertagen ist es in den Supermärkten angenehm kühl und im Winter wohlig warm. derart lässt sich das Paradies vorstellen. dennoch ist mir das Einkaufen eher ein Grauen. es sind unzählige Regalreihen abzuschreiten, um das Gewünschte inmitten einer Reizüberflutung zu finden, die selbst vor den Ohren nicht haltmacht, weil Werbung aus Lautsprechern ertönt. an der Kasse ist dann immer festzustellen, dass wieder zu üppig eingekauft und das Essentielle vergessen wurde.
ähnlich überfordert bin ich in Mega-Ausstellungen. es ist zu vieles zu sehen und wird von zu vielen beschaut, so dass keine Ruhe zu finden ist. die Kunst verlockt als ein überwältigender Luxus, welcher wie in der Werbung die Sinne mehr berauscht als schärft. dabei sollte jedes gute Bild ein dickes Buch sein, das lange und intensiv unterhält. Betrachter werfen stattdessen, wo es eine fulminante Schau ist und vorher Schlange zu stehen war, einzig einen kurzen Blick auf das Präsentierte und lesen bloss die Titelangabe. so etwas kann mir nicht passieren, nicht meinen Bildern und nicht meiner manchmal auch Kunst glotzenden Neugierde. ich besuche nur Ausstellungen, in denen ich so gut wie alleine bin, ergo ganz, ganz selten.
lange Zeit überredete ein Buffet oder wenigstens ein Freibier zu einer Vernissagen-Stippvisite. in den Cottbuser Kunstsammlungen war es ein reichhaltiges Frühstück, als man hier samstags um elf Uhr zur Eröffnung einlud. das liess ich mir gefallen. die langatmige Laudatio wurde ignoriert, derweil ich unausgeschlafen meist verspätet eintraf. seit einigen Jahren sind kulinarische Leckereien bei Ausstellungen passé und falls doch, werde ich nicht zu ihnen eingeladen. das ausgeschenkte Bier kostet in den Galerien wie in einem Restaurant zwei bis drei Euro. es muss die Unkosten decken oder die reichen Sammler einfangen, wobei dann ein Sekt gereicht wird, der beim ersten Glas umsonst ist. das passt jungen Ausstellern nun nicht mehr. in einem offenen Brief haben sie den Berliner Galerienbund aufgefordert, fortan Sektempfänge und kalte Buffets als Bestandteil einer Vernissage zu unterbinden. sie wollen nicht, dass die Besucher von einer Eröffnung zur nächsten tingeln, um in erster Linie den Prosecco zu geniessen. ihr Anliegen wird indes kaum Beachtung finden, denn ohne Alkohol fällt es zunehmend schwerer, sich an der zeitgenössischen Kunst zu berauschen.