überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

ich bewege mich zu wenig, ich sitze zu viel. lange war es in der Öffentlichkeit Würdenträgern vorbehalten, der gemeine Stand hatte sich mit Stehplätzen abzufinden. und so stand im Althochdeutschen das Wort Stuol für Sitz im Sinne von Thron, der ein recht repräsentativer zu sein hatte. in unserer Gesellschaft sitzt jeder seine Zeit ab bzw. aus, ob im Büro, in Wartezimmern, im eigenen Auto, im Fussballstadion oder anderswo. und das macht krank, selbst wo ein ergonomisch geformter, frei verstellbarer Niederlass vorliegt. bei mir ist es seit undenkbaren Zeiten ein harter Küchenstuhl, auf dem ich die besten Einfälle notiere. mein Denken bevorzugt eine unbequeme Position, die wach hält.
doch vor vier Monaten hat es mich im unteren Rückenbereich erwischt, genau genommen mein Iliosakralgelenk, das kurzweilig blockierte und seitdem für Schmerzen sorgt. damit sich die Nerven wieder beruhigen, muss ich das Sitzen reduzieren. da das Leseamt, das Schreibamt und das Korrespondieren sich nicht einfach auf ein Stehen (ohne Stehpult) und Liegen (ohne Ottomane) übertragen lassen, ist jenes Vorhaben schlecht umzusetzen. ich beanspruche hochsensibilisiert wie eine Prinzessin auf der Erbse mindestens zwei Kissen zum Arbeiten und zahlreiche Pausen für gymnastische Übungen. trotz Röntgenbild und professionellem Beistand von einem Orthopäden ist die genaue Ursache nicht eruierbar. eine teure Computertomografie habe ich abgelehnt, um meine Krankenkasse nicht übermassen zu belasten. sie erhöhen dann noch mehr die schon unerträglich hohen Beträge. ein preiswerter Physiotherapeut streckt alle drei Tage meine Wirbel und hofft, Eingeklemmtes zu finden. er bearbeitet beharrlich Triggerpunkte, welche als Verhärtungen im Muskelstrang vorliegen, und schweigt angenehmer Weise dazu. ein anderer würde mich über meine Defizite aufklären und mir ausführlich erklären, dass ich meinem Körper dankbar sein müsse, weil er mich auf einen falschen Lebensstil hinweist. aber ich weiss auch ohne Belehrung, ein Risiko für Kreislauferkrankungen und Haltungsschäden ist bei Menschen wie mir, die beständig am Computer arbeiten und stundenlang in Bibliotheken lesen, recht hoch.
meine Gepflogenheiten werde ich nicht grundsätzlich, nur ein bisschen ändern. das Sitzen generell einzuschränken geht leider nicht. anzustreben ist das Dasein eines umtriebigen Peripatetikers, der von einer Bibliothek in die nächste pilgert. die assoziierbaren, weiterführenden Gedanken kommen dann nicht vor einem Bildschirm, sondern beim Gehen. oder in den zahlreichen noch bestehenden Buchläden, wo ich stehend ausliegende Neuerscheinungen querlese. das Umherwandeln wird durchgehalten, bis die Beine schmerzen und nach einem Polster in einem Café verlangen. letztendlich ist das täglich zu meisternde Leben eine Sache von auszubalancierenden Gewohnheiten und am Ende schlimmstenfalls ein altersschwaches Liegen mit der Pflegestufe zwei oder drei.