überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

vorbildliche Vorbilder habe ich nie gehabt und damit keine verloren. vielleicht wäre ich mit der rechten Galionsfigur ein ganz anderer geworden und kein orientierungsloser Vagant geblieben. seit meiner Jugend assimiliere ich alles Wissen, was ich in Ausstellungen und Büchern bekommen kann, ohne in Diskussionen zu einem Experten von irgendwas zu mutieren. verstanden habe ich vieles erst bei einem kontinuierlichen Weiterlesen und bei manchem Autor nie abschliessend. ich habe nach Sartre und Camus den Heidegger so intensiv studiert, ohne ein Heideggerianer zu werden. durch Hegels Bände arbeitete ich mich als kein Hegelianer hindurch und ein Marxist konnte ich nie sein, da mich Marx zu sehr beeindruckt hat und sein kritischer Geist solches von vornherein verbietet.
anempfohlen wurde er mir als Ikone des Sozialismus nebst Engels sowie Lenin mit zahlreichen Zitaten schon in der Schule. die Lust, ihn im Original in seinen überall rumstehenden Werken zu lesen, war gering. ich rang mich nur dazu durch, da es unter Bekannten immer diese Frage gab, wer die Schuld am Desaster des real existierenden Sozialismus trug. die Hoffnung auf einen Kommunismus als die ideale Gesellschaft war noch ungebrochen. die gläubigen Sozialisten meinten, dass mit Stalin und seinem Terror die Fehlentwicklung begann. wer intensiv Lenin las und auch seine Briefe, in denen er hart gegen Abweichler in den eigenen Reihen intervenierte, gab ihm die Schuld. für andere wiederum war Engels, der Marx sinnentstellt vereinfacht hatte, der Unheilsbringer. doch auch die Irrtümer von ihm galt es zu verstehen und besonders die Erkenntnis, dass man keinem Dogma auf dem Leim gehen darf. der offizielle Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus wurde, wo immer er in seinen blauen Bänden vorlag, von mir gelesen und mit seinen stilistischen Raffinessen überaus geschätzt, jedoch wegen seiner intriganten Volten weniger als Mensch verehrt.
die kontemporär nach Sinn suchende Jugend hat es in dieser Hinsicht heute auch schwer. vor lauter Stars und Prominenten ist sie für die eigene Orientierung andauernd auf der Suche nach Identifikationsfiguren. sie werden als Idole schneller gewechselt als die designte Jeans, die nach wie vor zerrissen sein darf und als modischer Chic bereits so verkauft wird. in einer Gesellschaft, die Instant-Persönlichkeiten zu Idolen macht und Secondhandstars zu Symbolfiguren erhebt, kann es keine anhaltenden Vorbilder geben. und wenn doch, dann ist die Wahl sehr trivialisiert. es handelt sich um Fussballer, fotogene Sänger von Teenie-Bands, Topmodels oder angesagte TV-Moderatoren, deren Ansprüche recht trivial sind. es werden seltener Philosophen oder tiefsinnige Schriftsteller gelesen, die in heroischen Zeiten als Geistesgrössen Grundsatzdebatten provozierten, meist nur aktuell angepriesene Bestseller-Autoren.