überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

das Alter ist schmerzresistenter und der männliche Körper wegen beharrlicher Klischees sowieso. Frauen meinen, dass deswegen unser Geschlecht eine geringere Lebenserwartung habe. es wird bei Unpässlichkeiten zu lange gewartet und eines Tages ist es zu spät. der Krebs hat sich von der Prostata ausufernd im Körper verteilt oder der Kreislauf befindet sich wegen schlechter Blutwerte in einem irreparablen Zustand. bei mir noch nicht und so darf mich erst ein Doktor begutachten, wenn tatsächlich bedrohliche Symptome vorliegen. dies gilt aber nicht für die jährliche Prophylaxe beim Zahnarzt. seitdem ich einige Zähne verloren haben, versäume ich sie nicht mehr. schmerzt es irgendwo, werde ich sofort vorstellig und setze mich dem unangenehmen Bohren ohne Spritze aus. ich verzichte darauf, weil mich die Taubheit der Lippen stört und ich danach keine Pfeife rauchen kann. das kurzweilige Ziehen im Wurzelnerv ist im Vergleich zum Tabakverzicht ein Klacks. im reifen Alter kann es ertragen werden, nachdem schon so vieles ertragen und durchgestanden wurde.
mit weniger Empfindsamkeit ist auch manche Tristesse auszuhalten. das war bei mir nicht immer so. in der Schule litt ich unter einer Langeweile, wenn der Unterrichtsstoff zu oft wiederholt wurde oder politisch verbrämt ausfiel. noch langweiliger wurde es in den Sommerferien, da die verreisten Freunde fehlten und das Fernsehen mit seinen Wiederholungen keine Abwechslung anbot. ich ging dann für 20 Pfennige in die städtische Badeanstalt, wo vielleicht jemand anzutreffen war, der sich gleichfalls langweilte. war es nicht der Fall, döste ich hier einfach mit einem Buch in der Sonne. es gab einen 10-Meter-Sprungturm und Mutige, die aus dieser Höhe einen Kopfsprung wagten. sie konnten vor ihrer Freundin mächtig angeben. mir waren fünf Meter schon zu viel und ausserdem hatte ich keine Freundin. herunterspringen musste ich trotzdem einmal, nachdem ich den Turm neugierig erklommen hatte. da die Treppe eine ganz schmale war und von den Nachfolgenden blockiert wurde, stürzte ich mich trotz Höhenangst in die Tiefe. ich landete mit ausgebreiteten Armen schmerzhaft im Wasser.
derweil es an richtigen Abenteuern fehlte, erträumte ich mir in der einsamen Ferienzeit eine abenteuerliche Zukunft. ich wurde zu einem Erfinder von später zu erlebenden Geschichten, in denen ich die Hauptrolle spielte. als Naturforscher umsegelte ich wie Darwin die Welt oder es wurden für exorbitante Reisen Raumschiffe entworfen, welche verwegener als in der Serie "Star Trek" Raum und Zeit durchdrangen. Jahre später entdeckte ich für meine Höhenflüge die Philosophie und begann neben Deleuze und Derrida auch Heidegger zu lesen, für den langweilige Zeiten die Abgründe des Daseins darstellen, einen schweigenden Nebel vergleichbar, der alle Dinge in eine Gleichgültigkeit offenbar zusammenrücke. als bekennender Existentialist erhoffte ich mir, dass die erlittene Leere mir Grundlegendes offenbaren würde. ich war bereit, sie in ihrem tragischen Ganzen durchzustehen, was mir nicht ohne imaginäre Luftschlösser gelang.