überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

mit einem imaginären Surfbrett versuche ich an schwülen Tagen durch mein Arbeitspensum zu gleiten. gelingt es nicht, lasse ich mich von jeder aufkommenden Brise abtreiben, manchmal mit und manchmal gegen den Wind. auf einem Surfbrett ist es mir nie gelungen, eine solche Gelassenheit zu entwickeln. ich habe es eine Zeit lang ausprobiert und wegen dem schlagenden Segel nie lange das Gleichgewicht gehalten. eine Freundin musste mich deswegen einmal auf dem Schwielochsee retten, als ich bei aufkommendem Wind zu weit mit ihrem teuren Board abtrieb.
ich träume noch heute davon, dass mich irgendetwas abtreibt, in ein gefährliches Nichts saugt. lange war es die Furcht vor einem atomaren Krieg. Nuklearsprengköpfe gab es einige im eigenen Land und in der Schule wurden wir in Kursen des Zivilschutzes auf einen Erstschlag vorbereitet. aus alten Filzhüten bastelten sich alle für den Fall der Fälle Schutzmasken, um zu erfahren, dass man sich mit ihnen entgegengesetzt zum Atompilz flach auf die Erde legt. durch Verharmlosungen gewöhnten uns die Lehrer an einen latenten Krieg, in dem zur Abschreckung in Europa immer mehr Mittelstreckenraketen stationiert wurden, obwohl nach einem Grossangriff ein vernichtender Zweitschlag von U-Boot-Flotten drohte. eine solche Patt-Situation galt es wie den anfangs verharmlosten GAU im Reaktor Tschernobyl auszuhalten. für die Staatsführung lagen luxuriös ausgestatte Bunker vor, für die Bevölkerung lediglich undichte Keller.
dem kalten Krieg folgte ein heisser Friede mit dem Wind einer fulminanten Euphorie. eine friedliche Revolution schleifte die Mauer in Berlin, es wurde neues Geld eins zu eins eingetauscht und ein grenzenloser Reiseverkehr ausgehandelt. die Atomwaffen wollten internationale Kommissionen weltweit abschaffen und haben es leider nicht geschafft. es versuchen inzwischen Staaten wie der Iran und Nordkorea, Sprengköpfe zu erwerben oder Plutonium in geheimen Fabriken anzureichern. die Zahl der Kriege erhöht sich wie die der Krisenregionen. davon ist hierzulande noch wenig zu spüren. es geht den Leuten leidlich gut, während die Zahl der herbeiströmenden Flüchtlinge unübersehbar zunimmt. die Politik versucht sie zu ignorieren oder mit Obergrenzen zu verbieten, da man Angst vor einer Zukunft hat, die eine solche Not zu einer üblichen werden lässt. für die Nostalgiker werden im Fernsehen ständig Bond- oder andere Agentenfilme gezeigt und Touristen fotografieren sich gern am Checkpoint Charlie vor Schauspielern, die als verkleidete Besatzungssoldaten Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit wachrufen. sie verkörpern die Sicherheit eines kalten Krieges, in dem die Fronten klar waren und das Gleichgewicht des Schreckens für eine strategische Stabilität im Leben sorgte.