überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

das populäre Fussballspielen ist mir seit meiner Kindheit suspekt. in der Schulzeit konnten es andere treffender, weil ich lieber Bücher las, anstatt ganze Nachmittage auf einer Wiese herumzubolzen. spielte ich mal länger, musste ich untrainiert als Torwart oder Verteidiger einiges aushalten. der Ball war noch aus richtigem Leder und hart wie sonstwas, da er selten gefettet wurde und deshalb zu viel Feuchtigkeit aufnahm. angenehmer schien es, mit Freunden als kritischer Zaungast vor dem Stadion und meist auf einem Baum aus bester Position einem Spiel zuzusehen. in meiner Heimatstadt kickte der Oberligist Energie Cottbus noch in einem Stadion ohne Tribünen-Erhöhung. in Dresden, wo ich mit meinem Stiefvater bei Dynamo aufregendere Heimspiele erlebte, standen alle dichtgedrängt auf treppenartigen Emporen und man hatte einen guten Blick auf den Rasen, da noch keine monströsen Fahnen oder ähnlich bunt transparentes zum andauernden Schwenken die Sicht versperrten.
nach der Wiedervereinigung besuchte ich mit meinem grossen Sohn manches Hertha-Spiel. das Olympia-Stadion wurde umgebaut und in Berlin interessierten sich wenige für die Bundesliga. das änderte sich erst, als die Weltmeisterschaften ein breites Publikum anzogen und Autokorsos zu Fanmeilen mutierten. seitdem ist das fernsehgene Fussballspiel ein Mega-Event. als Ersatz für fehlende Abenteuer wird es von fast allen goutiert und soll permanent Spannung herbeizaubern. jeder will mitjubeln oder mitleiden, auch wenn er nicht einmal weiss, was ein Abseits bedeutet. der Fussball ist eine Volksdroge geworden und deshalb versammelt man sich nicht nur in Stadien, sondern auf grossen Plätzen beim Public Viewing, das tatsächlich die öffentliche Aufbahrung eines Toten bedeutet. und so könnte man es deuten bei der völligen Kommerzialisierung einer Sport-Kultur. ein Fan-Shirt kostet 50 Euro und die Eintrittskarten bei Pokal-Spielen werden zu Horror-Preisen auf Auktionen angeboten. da sich Spieler schmieren lassen, berichten die Zeitungen über Wettskandale immer ausführlicher. in diesem Sommer machen die Fifa-Bosse von sich reden, nachdem offensichtlich wurde, dass sie bei der Vergabe von Lizenzen bestechen. es geht um das grosse Geld und auf Fanmeilen wird wie unlängst beim Final-Spiel der Champions-League kein Spiel mehr auf Leinwänden gezeigt, sondern einzig die dröge Werbung von Sponsoren, ohne dass es jemand verstört.
seitdem der Bundesliga mindestens die halbe Nation hinterherfiebert, wird man unablässig von Kommentaren verfolgt. eine derartige Begeisterung nervt und es ist ausgeschlossen, sich Spielen um irgendeinen Pokal zu entziehen, da jede Nachrichtensendung und mindestens ein Nachbar darüber berichtet. man ist wie bei digitalen Operationen entweder dafür oder dagegen, entweder ein Fan oder völlig genervt. nichtsdestotrotz kicke ich mit meinem jüngsten Sohn am Wochenende den Ball in improvisierte Tore. zum Glück trainiert er es nicht wie sein Bruder einst in einem Verein mit Turnierspielen am Sonntag früh um neun. nein, er sammelt Fussballkarten, tauscht und verschenkt sie dann nach und nach.