überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

obwohl einem keiner mehr schreibt, ist der Briefkasten täglich verstopft. kostenlose Wochenzeitungen mit viel Werbung oder pure Werbung ohne journalistische Beilage werden hineingestopft. das bunte Papier signalisiert knallig, dass alles billiger geworden ist und raus muss. auf 50 Prozent Rabatt gibt es nochmal 20 Prozent und wer nicht zugreift, sei selber schuld. mein angebrachter Aufkleber: Bitte keine Werbung wird ignoriert. vielleicht ist meine Ansage zu höflich formuliert oder, da nicht piktografisch dargestellt, für Zusteller, die sich als Immigranten mit jenem Job verdingen, völlig unverständlich. besonders schlimm wird es nach einem Urlaub. bekomme ich eine wichtige Post vom Amt, geht sie im Reklame-Wust rasch verloren, und die Folgen können sehr verhängnisvoll sein.
nur warum verteilt man zuhauf Gedrucktes, das die wenigsten haben wollen? der tatsächliche Erfolg von Reklame-Botschaften dürfte im Promillebereich liegen oder noch kläglicher sein. Werbung funktioniert erst in allerhöchster Auflage, so dass sie sich nur grosse Unternehmen leisten können, um kleine Firmen vom Markt zu drängen. der freie Wettbewerb wird ausgehebelt und der Umsatz von schlechten Produkten befördert. eine teure Reklame verschlingt enorme Ressourcen, mithin sie sich immer greller und aufreisserischer aufdrängt, so als würde zu einer letzten Schlacht geblasen, zu einem Endsieg. die Müllabfuhr freut sich, weil sie mit dem überquellenden Abfall höhere Gebühren einstreicht und das Papier als Sekundär-Rohstoff gewinnbringend weiterreicht. in einer alten Wohnung habe ich damit meine Öfen angeheizt und Kohlen gespart. derweil lässt sich der lästige Reklamemüll einzig als Bodenschutz beim Malern der Wohnung verwenden. doch wie oft renoviere ich schon mein Zuhause.
die Nobelpreisträgerin Herta Müller zerschneidet ihren Briefkastenabfall und montiert daraus Gedichte. sie meint mit dem poetischen Puzzle von Werbebotschaften, eine neue Form im Umgang mit Wörtern gefunden zu haben. sinnfälliger wäre es, dass täglich Gedruckte kritisch zu kommentieren, auch wenn dafür kein Preis zu gewinnen ist. in der DDR musste man die Zeitungen nicht collagieren, es reichte aus, sie zu zitieren. das wurde dann paradoxe Poesie genannt. oder jemand dokumentierte wie der befreundete Fotograf Thomas Kläber einfach die Propaganda in Schaufenstern, in denen optimistisch-kämpferische Parolen vor einem kläglichen Warenangebot überzeugen wollten. als ein unaufgeregter Beobachter hat er Bilder festgehalten, auf denen vor Losungen wie "Plane mit, arbeite mit, regiere mit!" oder "Der Sozialismus siegt!" ein paar Brötchen vor sich hingammelten. jene Tristesse war als Foto-Stillleben damals so politisch brisant, dass es niemand in Ausstellungen zeigen wollte, nunmehr sind jene Aufnahmen veröffentlicht in Büchern und Katalogen pure Nostalgie.