überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

als Schüler war er ein Schlüsselkind und verbrachte ab der vierten Klasse die Nachmittage allein zu Hause. diese Selbständigkeit erfreute ihn, konnte doch die Wohnung, während die Eltern arbeiteten und seine jüngere Schwester im Hort weilte, von ihm ganz nach Belieben genutzt werden. er sah viel fern, vor allem in den Ferien die späten Abendfilme, welche für Schichtarbeiter wiederholt wurden. unbeschwert genoss er das Alleinsein, einzig die Angst, dass er seinen Schlüssel verlieren könnte, trübte die frühe Selbstständigkeit. denn einmal hatte er sich ausgesperrt und musste in Hausschuhen seine Mutter in ihrem Büro aufsuchen. ständig ging ihm etwas verloren oder kaputt. seine Schusseligkeit war in jungen Jahren besorgniserregend und besonders schlimm war es, wenn er seinen Turnbeutel vergass und sich in der Unterwäsche bei der körperlichen Ertüchtigung in der Schule blamierte.
erst nachdem er das Elternhaus verlassen hatte, war es vorbei mit der Vergesslichkeit. selten ist er durch eigenes Verschulden in Engpässe gekommen, und wo es andere waren, die solches für ihn verschuldeten, nahm er es nicht zu tragisch. auch als einmal fast seine Küche abbrannte, weil eine Freundin unbemerkt einen Topflappen in Brand setzte und dieser dann die Bastmatten auf dem Boden. er prüft seitdem zweimal, bevor er das Haus verlässt, ob die Kerzen gelöscht, die Gashähne zugedreht sind, und sein Schlüsselbund steckt im Schloss, damit er es beim Verlassen der Wohnung nicht vergesse. mit meinem kleinen Ordnungswahn schafft er sich den Freiraum für ein wildes Leben. es bedarf bei mir der Korrektheit, um zu genialen Höhenflügen zu emergieren. beginnt er aufwendig nach einem Buch oder den Memory-Stick zu suchen, ist ein Tag selbst mit guten Einfällen ein verlorener.
er muss entspannt sein Tagwerk angehen, um zu Einfällen zu kommen. es gelingt zumeist in Bibliotheken, wo Ideen in vorliegende Computer getippt und mit Passwörtern vor dem fremden Zugriff bewahrt werden. man wird dazu aufgefordert, kryptische Kombinationen zu kreieren und muss sich den Code merken. da es viele Accounts sind, verwendet er gern überall den gleichen. wer ihn knacken kann, hat zu all meinen virtuellen Schreibtischen Zugriff. sein e-Mail-Dienst verdonnert ihn wohl deswegen dazu, in regelmässigen Abständen das Passwort zu wechseln. wenn er es sich bei der Eingabe vertippe, wird er am nächsten Tag aufgefordert, die Kombinationen erneut zu ändern. digitale Netze sind ein unsicherer Ort und Codes fast immer zu hacken. Schlösser, die mit einfachen Zahlenrädchen arbeiten, haben sich für Fahrräder nie richtig durchsetzen können. ebenso verbleibt der elektronische Fingerabdruck, den man aus Agentenfilmen kennt, ein utopisches Relikt. wahrscheinlich ist auch er schnell zu kopieren. derweil der konventionelle Schlüssel der sicherste Schutz bleibt, trägt er wie ein Hausmeister ein dickes Bund mit mir herum. es wird immer grösser und beult seine Hosentaschen aus. er sammelt Schlüssel, für die kein Schloss mehr existiert. doch so lange er nicht weiss, welche überflüssig sind, wird er keinen wegwerfen.