überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

wie sehr man sich verändert, selbst wenn man sich treu bleibt. lange war er ein Warmduscher und ging erst im Hochsommer baden. nun springt er Anfang April bei coolen 13 Grad Wassertemperatur in einen See. der Klimawandel bringt im Frühling die ersten Hitzewellen, so dass der Kreislauf früher eine Erfrischung braucht. bei der winterlichen Kälte zieht er sich einfach wärmer an und dreht zuhause die Heizung auf. gegen eine anhaltende Hitze lässt sich wenig in zugebauten Städten ausrichten. von schwülen Sommertagen erlöst keine Altbauwohnung mit dicken Mauern, kein Ventilator und auch keine, wenn man sie denn hätte, Klima-Anlage. die Luft fühlt sich lau an und mindert das Arbeitstempo. einzig eine Dusche oder der Besuch einer Tiefkühlabteilung im nächsten Supermarkt helfen temporär. geht es so weiter mit dem Klimawandel, wird er ein Fan des Eisbadens. es soll ja abhärten und den Kreislauf stählen, so dass er im drückenden Sommer besser standhält.
doch für was und für wen soll man sich fithalten? verfallen um ihn herum vermehrt Menschen in eine Lethargie, muss er mit ihnen mit einer angezogenen Handbremse kommunizieren. wird zu viel digital verkehrt, reduziert sich der gemeine Austausch auf ein ausweichendes Entweder-Oder und in der Regel wird zwischen einem Nützlich oder nicht Nützlich unterschieden. für Dinge, die ihn brennend interessieren, begeistern sich nur Menschen, denen er selten begegnet. er muss es aufschreiben oder für sich behalten. die Wahrscheinlichkeit wird geringer, in einen aparten Dialog zu treten, wo Menschen zu sehr mit sich beschäftigt sind und nach der Arbeit allzu müde, um eine Neugierde auf Ungewöhnliches zu entwickeln. einzig beim Fahren mit ihrem Auto, das sie noch selbst steuern dürfen, sind sie zu aufwühlenden Emotionen fähig. geht es nicht voran, weil ein Ortsunkundiger die Strasse blockiert, wird gehupt und krakelt. doch klingelt das Handy mit dem Konterfei eines Bekannten, verschwinden die Aggressionen geschwind. man kann nur noch emigrieren. bloss wohin, wohin? man darf darüber nicht nachdenken, sonst wird man verrückt oder suizidal.
das tägliche Räsonieren benötigt ein Gegenüber, das herausfordert und inspiriert. in naher Zukunft werden es bestimmt wie beim Schachspielen künstliche Intelligenzen übernehmen. sie trainieren intensiv für diese Aufgabe und werden irgendwann verständnisvoller sein als wir introvertierten Menschen. heute können Computer-Programme schon Nachrichten für Zeitungen schreiben, Bestseller-Romane auch und künftig vielleicht philosophische Bücher. mit ihnen wird der small-talk so perfekt funktionieren wie bei den selbstfahrenden Autos demnächst die vollautomatische Navigation. intelligente Systemen und Algorithmen werden unbedachte Unfälle im Stadtverkehr und gleichfalls Missverständnissen beim Parlieren verhindern.