überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

welche Bücher würde er auf eine Insel mitnehmen? vielleicht einen Lyrikband und etwas Dickes, die Bibel oder Hegels Wissenschaft der Logik. als Reiselektüre hat er sich immer zu viel Gedrucktes eingepackt, sogar bei Zelt-Touren durch ein Gebirge mehrere Taschenbücher im Rucksack verstaut und dann nichts gelesen. nunmehr verzichtet er darauf und geniesst extrovertiert das veränderte Umfeld. in der Hausbibliothek werden aus Platzgründen einzig noch Bücher akzeptiert, die er mehrfach lesen kann, also immer noch einmal. oder jene, die ein abschreckendes Beispiel abgeben, wie ein dialektischer Materialismus und Ausgaben der "neuen kritik" vom Studentenbund SDS, welche mit ihren ideologischen Substantivierungen unlesbar sind. lange war seine Bibliothek der Beleg für das bereits Bewältigte an Lesestoff. doch irgendwann wurde allzu Profanes radikal aussortiert, verschenkt oder weggeworfen.
eine Insel kann er mit den verbleibenden dreitausend Bänden nicht ansteuern. dieses Last ist für eine Passage zu gewichtig. ergo baut er sich mit den besten Büchern zu Hause ein Eiland und hat in einem abschirmenden Papier-Kokon sein Robinsonerlebnis. lesend ist der Mensch voller Macht allein und insofern es die richtige Lektüre ist, mit viel Phantasie überall auf einem Eiland. mit dem Finger auf der Landkarte hat er als Heranwachsender die Fremde bereist, und seinem Schulatlas war es anzusehen. obwohl die Erde im Geographie-Unterricht zu sehr unter politisch-ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, trübte das die Entdeckerfreude wenig. im real existierenden Sozialismus sehnte man sich nach einer abenteuerlichen Ferne, so wie sie gelegentlich im Fernsehen oder in vaganten Romangeschichten aufschien.
als es nach dem Mauerfall möglich wurde, ferne Kontinente zu erkunden, blieb er der Heimat treu. lediglich einige westeuropäische Länder und der Norden Afrikas wurden in den ersten Jahren nach dem Mauerfall besucht. es reichte als Realitätsabgleich. sein Fernweh stillt nach wie vor eine anspruchsvolle Belletristik oder einfach der eigene Kiez, wo es zunehmend bunter zugeht. seit Jahren strömen aus der weiten Welt zig Tausende in die Mitte Europas und erhoffen sich hier ein besseres Leben. sie geben eine vertraute Kultur auf und riskieren bei gefährlichen Passagen ihr Leben. sogar aus dem südlichen Europa lassen sie sich gern in seiner Stadt nieder und fühlen sich bald einheimischer als in ihrem Land. sie nehmen nach eiskalten Wintern schwüle Sommer in Kauf und treffen auf Bekannte sowie Verwandte, welche sich hier schon angesiedelt haben. es wird in vielen Sprachen auf den Strassen schwadroniert und mit den Einheimischen schlechthin englisch. eine solche Vielfalt ist erquickend und erspart die jährliche Urlaubsreise. in jungen Jahren war sie für ihn noch obligatorisch, um sich von einem teutschen Alltag zu erholen.