überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

wie viele Prüfungen man in seinem Leben bestehen muss. in der Schule sind es unzählige Leistungskontrollen und am Ende die wichtigen, mit denen ein junger Mensch entscheidet, ob er studieren darf oder einen praktischen Beruf erlernt. unverschämt wird für die Matura dabei geschummelt. so kannte auch er wie alle anderen in seiner Abi-Klasse vorab die Fragen, weil die Mutter von einem Mitschüler Lehrerin war und sie telefonisch durchstellte. nur genutzt hat es nicht viel. in Mathe verrechnete er sich ungeschickt und benutzte nicht den offiziellen Lösungsweg, so dass er dafür keine Punkte bekam. seinen Deutsch-Aufsatz schrieb er mit zu viel Ehrgeiz und verfehlte im Übermut das Thema. anstatt eine vorbildlich sozialistische Persönlichkeit zu erörtern, erhob er eine tragische aus einem Buch von Valentin Rasputin zum Vorbild. das konnte die ihm gewogenen Lehrerin gerade noch durchgehen lassen, aber nicht mit einem Sehr-gut bewerten.
an der Uni wurden Prüfungen, vor allem die Multiple-Choice-Tests, bei denen man leichter vom Banknachbarn abschreiben oder direktemang raten konnte, nicht sehr ernst genommen. einzig Streber, welche intensivst büffelten und sonst kaum eigene Interessen hatten, bereiteten sich auf alles ausführlich vor. die meisten mogelten sich durch und haben die wahre Reife bewiesen. die harten Prüfungen sind nach der Schule zu bestehen, wo kein Auswendiglernen hilft und das Berufsleben nicht das geistige Vermögen honoriert, sondern das praktische Bestehen. man muss sich, um lukrative Posten zu ergattern, bestens vernetzen und gut improvisieren können. solches hat sich noch nicht überall herumgesprochen. die Lesesäle der Bibliotheken sind vor den Semesterferien mit aufgeregten Studenten überfüllt, die keine Bücher lesen, sondern eifrig für ihre Zeugnisse Fakten und Schemata auswendig lernen.
eine prosperierende Branche lebt von der Angst, nicht in Prüfungen bestehen zu können. es werden Ratgeber-Broschüren mit vorbereitenden Tests en masse verkauft und für eine mentale Fitness bieten Lern-Trainer ihre Dienste an. allerorten wird irgendetwas geprüft, damit der Druck von fremden Erwartungen erfolgreich auszuhalten ist. jeder darf inzwischen bei jedem Leistungen benoten oder nach seinem Gusto einen Gefällt-Mir-Button drücken. es gibt kaum eine Dienstleistung, ob der Telefonservice, das Hotelwesen, der Zustell-Service oder die Kunstproduktion, welche nicht nach einer Bewertung rufen. Punkte oder Sternchen wollen sie bekommen. damit ist gesichert, dass sich viele hochmotiviert anstrengen.
ganz perfide wird es, wo man sich selbst einschätzen muss. sein jüngster Sohn hat dies immer am Ende des Schuljahres zu bewerkstelligen. Selbstkritik wird als Selbstdisziplinierung geübt und man hat sich so zu sehen, wie andere einen beurteilen. ein devot fleissiges Gebaren trainiert sich zu einer Hörigkeit gegenüber Leuten, die kleine oder grosse Chefs sind. man kann dagegen rebellieren und ein Eigenbrötler werden, oder man lässt es interesselos über sich ergehen.