überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

kein Mensch will mehr Gedichte lesen und kaufen sowieso nicht. also müssen sie bei passender Gelegenheit rezitiert werden. dabei finden sich die üblichen Verdächtigen ein, welche meist selber welche schreiben. sie hören höflich zu und stellen nette Fragen, oder auch nicht. als ich mal meine Lyrik bei einem Lese-Event in der Wohnung einer Freundin vortrug, stiess ich auf regen Widerspruch und referierte manche Zeile für ein hartnäckiges Verstehen-Wollen mehrfach, was zu lauten Diskussionen führte. als alle durcheinander und gegeneinander einredeten, kam es zu einem Tumult, der zu einem Streit mit einer Nachbarin führte. sie versuchte, wiederholt ihre Ruhe einzuklagen und telefonierte irgendwann ohne Vorwarnung mit der Polizei.
mit mehreren Mannschaftswagen rückte diese auch prompt an. es klingelte und der arme Türöffner wurde kurzerhand am Boden fixiert. danach strömten sage und schreibe neun behelmte Uniformen in eine Zwei-Zimmer-Klause, um eine zu laute Geselligkeit aufzulösen. der Ausgang war verstopft und niemand, egal ob er es wollte oder nicht, konnte sich in jene Richtung bewegen. die herbeigeeilten Polizisten befanden sich wegen zu erwartender Krawalle (wir hatten in drei Tagen den ersten Mai in Berlin) im Bereitschaftsdienst und mussten sich ziemlich gelangweilt haben. die Anzeige wegen Ruhestörung war bestimmt für sie eine lohnenswerte Abwechslung und stimulierende Einstimmung auf Kommendes gewesen. dementsprechend ruppig ging es zu.
Lesungen sind gemeinhin eintönige Angelegenheiten. es erscheinen, egal wie augenfällig sie im Veranstaltungskalender der Presse und per Mail im Bekanntenkreis angekündigt wurden, wenig Interessierte, schlimmstenfalls nur Hausfrauen oder Rentner. es wird nicht über das Vorgetragene diskutiert, sondern darüber, dass es mit der Literatur bergab geht, seitdem sich stetig weniger Menschen für ambitionierte Zeilen interessieren. ich halte mich mit dem öffentlichen Vorlesen zurück und lese auch, was andere geschrieben haben, lieber für mich. wird ein gewichtiges Gedicht vorgetragen, kann man seinen Gehalt selten erfassen, wo die Zeit des Vortragens eine oszillierend zu kurze ist. oder es wird ein ganz schlichtes Zeilenwerk deklamiert, so dass nichts hängen bleibt.
Gedichte dürfen schwer verständlich sein, damit man sie erst versteht, wenn man sie nicht versteht, also vielschichtig assoziierend für sich interpretieren muss. im Gegensatz zur Werbung, die ebenfalls verknappt Assoziierendes in ungewöhnliche Zusammenhänge bringt, kreiert die Poesie selten eindeutige Botschaften und eignet sich nicht für öffentliche Anhörungen. schwierige Gedichte sind normal und intim auszuhaltende Angelegenheiten. Leser wie Schreiber sollten ihre Schwierigkeiten mit ihnen haben und bei einer lauten Diskussion über die richtige Interpretation durchaus einen Polizei-Einsatz riskieren.