überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

meine weiteste Reise führte mich als DDR-Bürger nach Kiew und fast wäre ich dort trotz Rückfahrkarte gestrandet. die damals zur Sowjetunion gehörende Millionenstadt war offiziell für den Individualreisenden unerreichbar. man durfte nur in einer Reisegruppe oder mit einer genehmigten Einladung in den fernen Osten fahren. mit einem Trick war es allerdings möglich, als einfacher Rucksack-Tourist dorthin zu gelangen. die Stadt wurde einfach im Reiseantrag als Transit angegeben. ich reiste dementsprechend mit einer Lebensgefährtin formell über Warschau und die Ukraine nach Rumänien, was ein ziemlicher Umweg war, doch bei subventionierten Bahnkosten erschwinglich blieb und von den Behörden wahrscheinlich wegen mangelnder geographischer Kenntnisse ohne Nachfragen abgestempelt wurde. in Kiew angekommen, genossen wir stolz über unsere Verwegenheit den Urlaub so lange, bis wir erfuhren, dass eine Platzkarte für die Weiterfahrt nach Bukarest benötigt wurde und nur mit Glück zu bekommen war. Reisebüros verkauften sie, vor denen immer eine undurchdringliche Menschentraube ausharrte. zwei Tage versuchten wir vergeblich die Tickets zu kaufen, so dass ich alle Hoffnungen fahren liess und beschloss, bis zur Grenze zu trampen. meine Partnerin sah die Sache realistischer, das heisst die Gefahren der Landstrasse, und versuchte es allein weiter. sie hatte Glück und traf eine Reisende mit Insider-Kenntnissen. mit ihr gelang sie in das umschwärmte Office, bekam die Reservierungskarten, so dass wir endlich nach Rumänien weiterfahren konnten. es schien auch dringend geboten, unsere Rubel waren ausgegeben und man Magen durch einen Kwass, welchen ich trotz Warnungen unbedingt probierte, durchschlagend vergiftet.
in Kiew sah ich so viele Bettler und Alkoholiker wie bis dahin nie in meinem Leben. sie wurden nicht beachtet oder schroff verscheucht, da die Menschen recht rücksichtslos miteinander umgingen, was wir besonders drastisch während eines Hagel-Schauers erlebten, als die Autos wegen grosser Wasser-Pfützen ohne Vorwarnung rasant auf dem Boulevard weiterfuhren. wer eine Wohnung hatte, flüchtete schnell dorthin und wir in ein Kaffeehaus. nachdem hier endlich ein Tisch frei wurde, durften wir uns leider nicht ausruhen. neu ankommende Gäste forderten uns vehement auf zu gehen. ignorierte man jene Unfreundlichkeit, wurde man von seinem Platz einfach weggeschubst, mit skrupelloseren Ellenbogen als in meinem Heimatland.
für den mittelalterlichen Denker Thomas von Aquin hatte ein Übel kein eigenständiges Sein, es war für ihn nur ein sich offenbarender Mangel. man kann dem zustimmen, wo es nicht um reale Bedrohungen geht, sondern um die Unerfüllbarkeit von Wünschen, welche in der DDR primär unter einem gefühlten Freiheitsdefizit litten. meine illegale Kiew-Reise habe ich hier in gemütlichen Runden als ein extravagantes Abenteuer kolportiert und hatte, wenn ich über unter die Haut gehende Begebenheiten berichtete, stets aufmerksame Zuhörer. zu solchen Erlebnissen kam man arg behütet kaum in einem real existierenden Vorzeige-Sozialismus, der kein unsozialer und kein irreal existierender sein wollte.