überflieger in spe


(eine versuchte selbstheit)

im Künstlerberuf muss man sich ausgiebig bilden. wer es unterlässt, landet irgendwann im profanen Designer-Handwerk, und wird es übermässig favorisiert, führt es unbedarft in eine akademische Karriere mit einer blass theoretischen Sicht. ich hat sich vor jungen Jahren weder für das eine noch das andere entschieden und favorisiere, so er viel und gern liest, ein Sowohl-als-auch. somit war er, als ihn die Uni in Leipzig mal für einen Vortrag einlud, gut geeignet, um über das Verbindende zwischen einem bildend Ästhetischem und dem rational Abstrahierendem eigene Ansichten zu referieren.
sein Vortragen wurde eine hybride Gratwanderung, die zunächst eine Grenze zwischen der Kunst und Wissenschaft skeptisch in Frage stellte, um sie dann einzig als eine unscharfe zu akzeptierten. die wissenschaftliche Lehre bleibe ohne ästhetische Fundierung, erklärte er einem Auditorium von Dozenten und Studenten, eine blosse Leere, da ihr ohne Synästhesie die unabdingbare Hybris für phantastische Assoziationen fehle. solches musste natürlich intensiv ausdiskutiert und am Ende einvernehmlich relativiert werden. verbeamtete Philosophen halten im Allgemeinen nicht viel von der Kunst und berufen sich bei ihrer Ablehnung gern auf Hegels Ästhetik, wo von deren Ende die Rede ist. nur bleibt es nach wie vor umstritten, seitdem bekannt ist, dass jener Vorlesungstext nicht von Hegel selbst überliefert wurde, und es sich somit um eine unklare These handelt. für nicht belanglos hielt er die Tatsache, dass es schwierig wurde, nach der Diskussion in der Leipziger Innenstadt eine passende Kneipe zu finden.
obwohl die Silhouette die gleiche war, hatte sich die Stadt gravierend verändert. als er hier zehn Jahre zuvor die Kommunikationswissenschaft und extern Kunst studierte, belebte neben modernen Messebauten und altehrwürdigen Einkaufspassagen überall Heruntergekommenes das Geschehen. zwischen Ruinen und noblen Hotels fand man gemütliche Lokalitäten. immerdar mehr als vonnöten war, und deswegen wurde tagsüber viel Kaffee und am Abend überreichlich Bier in Schankwirtschaften und Restaurants getankt, wo sich der gastronomische Schliff der 60er Jahre erhalten hatte und das Publikum dementsprechend einkehrte. derartiges haben in wenigen Jahren profane Mövenpick- sowie Burgerketten ersetzt. auch sein Lieblingscafé, dessen Namen er im Laufe der Jahre vergessen hat, ist verloren gegangen. hier verkehrten neben Alkoholikern gern namhafte Schauspieler und Künstler wie Bernhard Heisig. heute sind es grösstenteil Touristen oder Geschäftsleute, die sich gastronomisch gut bedienen lassen. zu seiner Zeit wurde auf einen guten Service keinen Wert gelegt und stattdessen viel debattiert oder intensiv gelesen. von ihm häufig die gerade gekaufte Lektüre. viel Geld hat er in der ehemaligen Buchstadt gelassen und ist stets reich bepackt mit Literatur nach Hause gereist. zuweilen auch mit einem Lessing im Rucksack, der über Leipzig einst raunzte: "Ich komme nach Leipzig, an den Ort, wo man die ganze Welt im Kleinen sehen kann."