petting des ich


(ein investigativer rückblick)

über was man sich nicht alles unisono aufregen kann: über unverschämte Managergehälter, über unsinnige Grossbaustellen, über anmassende Rechtschreibreformierungen... man behält seine Empörung aber lieber für sich und moniert es nicht zu laut, damit noch ein bisschen Wut für die wahren Probleme übrigbleibt. ein eigenwilliges Denken muss sich nicht mit allgemeinen Ressentiments bei der Kneipen- wie Medienkommunikation gemein machen.
es wird allenthalben zu viel geredet oder geschrieben und aus purer Langeweile ausgeplaudert, was sich mitteilen lässt. sogar mit dem gespiegelten Konterfei im Bildschirm des abgeschalteten Notebooks wird noch in der Nacht parliert, um die Peinlichkeit der inneren Leere gut versteckt und verdeckt zu halten. Steuerbetrüger arbeiten sehr erfolgreich so. sie legen, um ihre Gaunereien abzuschirmen, massenweise Akten an, in denen die sinnlosesten Daten dokumentiert werden. die Fahnder der Finanzministerien müssen sich da erst einmal durcharbeiten und finden bloss mit Fortunas Hilfe Belege für Betrügereien. oder es werden Kapitalerträge extrem gestreut als unauffällige Summen ins Ausland verschoben. erst seitdem es besser kontrolliert wird, müssen Banken dafür Strafen zahlen. in der Literatur ist es wiederum ganz anders. bedeutenden Dichtern und Denkern verzeiht man unkorrekte Ausfälle in einem Opus magnum. selbst übelste Schmähreden wie antisemitische bei Marx, Luther und Wagner werden entschuldbar, zumal sie weit zurück in einem anderen Kontext liegen. wer wenig publiziert hat und zeitgenössisch ist, darf indes mit keiner Kulanz rechnen. Gnade erfährt lediglich, wer ordentlich Abbitte leistet, oder wenn sich die allgemeine Diskussion behände anderen Verfehlungen zuwendet. die Halbwertzeit von Skandalen ist bei der Menge an zu berichtenden eine kurze geworden.
der vernetzte Alltagsmensch kommuniziert alles, was er meint, meinen zu können. sogar von seinem Essen postet er täglich ein Foto ins öffentliche Netz und die abendlichen Fernsehsendungen werden so ausführlich kommentiert, als würde für diese Zeit ein Alibi benötigt. niemand möchte Privates für sich behalten und den Eindruck erwecken, dass er etwas zu verbergen oder keine Meinung habe. dabei kann es heil- und erholsam sein, die eigenen Ergüsse zurückzuhalten. was verschwiegen wird, belastet oder enttäuscht nicht. in einer Diktatur zwingt die Zensur freie Denker automatisch zu zweideutigen Aussagen. sie nimmt das Korrespondieren ernst und sorgt dafür, dass Ansichten verschlüsselt weitergegeben, mit Umschreibungen versehen oder als literarische Paraphrase wie eine Flaschenpost anonym hinterlegt werden. in einer liberalistischen Gesellschaft ist die Ressource Aufmerksamkeit derart ausgereizt, dass in den öffentlichen Kanälen sich echte Hilferufe zu fiktionalen Botschaften relativieren.