mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

ich stehe immer früher auf. das wache Dämmern des Morgens ist schwerer zu ertragen. lange Zeit begann ein Arbeitstag erst um zwölf bei mir. ich schlief bis zum Abspann meiner Träume und brauchte zum Frühstück einen starken Kaffee, um richtig munter zu werden. nun verlasse ich gegen neun das Bett und sitze eine halbe Stunde später vor einem Computer, obwohl mich keine Verpflichtung dazu verdonnert, kein Lehrauftrag, keine Jury-Mitgliedschaft und seit sechs Jahren kein Bürojob mehr. seitdem ich ich mich vor den unproduktiven Nachtstunden fürchte, brauche ich eine regelmässige Arbeitsroutine. etliche Jahre bin ich als Nachteule zu den besten Einfällen gekommen. derzeit grüble ich nächtens vergeblich über das Hier und Jetzt. das macht auf die Dauer missmutig. arge Zweifel beginnen mich de omnibus dubitandum zu plagen. um dem zu entkommen, gehe ich immer früher ins Bett.
ein fleissigerer Mensch bin ich damit nicht geworden, weil ich schon immer einer war und bei meinen nicht abzubummelnden Überstunden mehr nicht geht. höchstens bei der Selbstdisziplin wäre eine Steigerung möglich, obwohl ich dafür kein Talent und wenig Verständnis besitze. die Disziplin war in meiner Schule eine obligative Tugend und wurde bis zur vierten Klasse im Zeugnis benotet. eine Eins bekam, wer unauffällig blieb und sich an Regeln hielt. für ein späteres Arbeitsleben war dies wichtig. bei einem insgesamt guten Zensurenschnitt ebnete sich der Weg in einen einträglichen Bürojob mit einem Erledigt-Stempel für das fleissige Abarbeiten von Akten. in der bildenden Kunst, wo ein beharrlicher Fleiss und das diszipliniert handwerkliche Vermögen gleichfalls wichtig sind, war eine aufgetragene Firnis der Beleg, dass Auftragsarbeiten vollendet vorlagen. am ersten Tag der Ausstellung hingen die Elaborate noch ohne Schutzschicht an der Wand, damit Änderungswünsche artikulieren werden konnten.
inzwischen präsentiert sich bei Vernissagen alles fertig optimiert in rasch aushärtenden Acrylfarben, und das deprimiert zuweilen. inspiriert bin ich, wenn die Motive ambivalent einstimmen. wo sie vollendet vorliegen, ziehe ich mich zurück und hoffe auf eigene Eingebungen. bleiben sie aus, schützen einzig Routinen vor Trübsal. falls die Rahmenbedingungen stimmen und die Orte die gleichen sind, stellen sich keine Warum-Fragen ein. nur in der Nacht bewahren die Gewohnheiten nicht vor Angstschüben. in schlaflosen Nächten wird manches kathartisch ausgelebt, damit es tagsüber nicht nervt. in der Mitte meines Lebens litt ich einen Herbst lang besonders arg unter Alpträumen, ich wachte völlig verschwitzt auf und musste das feuchte Bettzeug wechseln. das Transpirieren liess sich nicht erklären, da es mir eigentlich recht gut ging. kein Stress, keine Infektion und keine Angstvorstellungen hielten mich auf Trab. es nervte lediglich, dass ich keinen grossen Drang zum Arbeiten verspürte. vielleicht war dies der Grund für die nächtlichen Attacken. es fehlte der Druck einer Kunstproduktion und der Kreislauf schuf sich eine eigene künstliche Nötigung.