mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

er steht immer früher auf. das wache Dämmern des Morgens ist schwer zu ertragen. lange Zeit begann ein Arbeitstag erst mittags. er schlief bis zum Abspann seiner Träume und brauchte zum Frühstück einen starken Kaffee, um richtig munter zu werden. nun verlässt er gegen neun das Bett und sitzt eine halbe Stunde später vor einem Computer, obwohl ihn keine Verpflichtung dazu verdonnert, kein Lehrauftrag, keine Jury-Mitgliedschaft und seit sechs Jahren kein Bürojob mehr. seitdem er sich vor unproduktiven Nachtstunden fürchtet, sucht er eine regelmässige Arbeitsroutine. etliche Jahre ist er als Nachteule zu den besten Einfällen gekommen. derzeit grübelt er nächtens vergeblich über ein Hier und Jetzt. das macht auf die Dauer missmutig. arge Zweifel beginnen ihn zu plagen. um dem zu entkommen, geht ich früher ins Bett.
ein fleissiger Mensch ist er damit nicht geworden, weil er schon immer einer war und bei nicht abzubummelnden Überstunden mehr nicht geht. höchstens bei der Selbstdisziplin wäre eine Steigerung möglich, obwohl er dafür kein Talent und wenig Verständnis besitzt. die Disziplin war in seiner Schule eine obligative Tugend und wurde bis zur vierten Klasse im Zeugnis benotet. eine Eins bekam, wer unauffällig blieb und sich an Regeln hielt. für ein späteres Arbeitsleben war es wichtig. bei einem insgesamt guten Zensurenschnitt ebnete sich der Weg in einen einträglichen Bürojob mit einem Erledigt-Stempel für das fleissige Abarbeiten von Akten. in der bildenden Kunst, wo ein beharrlicher Fleiss und das diszipliniert handwerkliche Vermögen gleichfalls wichtig sind, war eine aufgetragene Firnis der Beleg, dass Auftragsarbeiten vollendet vorlagen. am ersten Tag der Ausstellung hingen die Elaborate noch ohne Schutzschicht an der Wand, damit Änderungswünsche artikulieren werden konnten.
inzwischen präsentiert sich bei Vernissagen alles fertig optimiert in rasch aushärtenden Acrylfarben, und das deprimiert zuweilen. inspiriert ist er, wenn die Motive ambivalent einstimmen. wo sie vollendet vorliegen, zieht er sich zurück und hofft auf eigene Eingebungen. bleiben sie aus, schützen einzig Routinen vor Trübsal. falls die Rahmenbedingungen stimmen und die Orte die gleichen sind, stellen sich keine Warum-Fragen ein. nur in der Nacht bewahren die Gewohnheiten nicht vor Angstschüben. in schlaflosen Nächten wird manches kathartisch ausgelebt, damit es tagsüber nicht nervt. in der Mitte des Lebens litt er einen Herbst lang besonders arg unter Alpträumen, wachte völlig verschwitzt auf und musste das Bettzeug wechseln. das Transpirieren liess sich nicht erklären, da es ihm recht gut ging. kein Stress, keine Infektion und keine Angstvorstellungen hielten ihn auf Trab. es nervte lediglich, dass er keinen grossen Drang zum Arbeiten verspürte. vielleicht war dies der Grund für die nächtlichen Attacken. es fehlte der Druck einer Kunstproduktion und der Kreislauf schuf sich eine eigene künstliche Nötigung.