mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

die Berliner Metropole ist ein geschichtsträchtiger Boden geworden und muss Scharen von Touristen ertragen, die sich historische Highlights inmitten von authentischem Kiezcharme erklären lassen. sie folgen rückwärts laufenden Führern, welche wie Marktschreier um Aufmerksamkeit ringen. daran ist kein Vorbeikommen und so wird man für eine Weile ebenfalls aufgeklärt, um dann in einer temporär anderen Stadt zu stehen. jede Strasse hat ihre Jahreszahlen und jedes zehnte Haus einen ehemaligen Prominenten als früheren Bewohner oder wenigsten Kriegsnarben. zum Angedenken werden immer mehr Gedenktafeln installiert. oder wie am Checkpoint-Charlie sogar überdimensionale Foto-Dokumentationen aufgestellt, auf dass der ehemalige Grenzübergang als eine magische Attraktion erlebbar wird. inmitten von Drehorgelspielern und Zinnsoldaten erspüren die von weither Angereisten die Aura einer geteilten Stadt und knipsen sich vor jener Staffage eifrig.
ich wollte das auch mal ausprobieren und habe mich einer städtischen Führung angeschlossen. freilich nur weil sie versprach, auf den Spuren Kafkas in Berlin zu wandeln. er soll ja, obwohl tuberkulosekrank, hier eine ziemlich produktive Zeit verbracht haben. darum ging es leider nicht bei der Exkursion. als Teil einer Gruppe flanierte ich an altbekannten Sehenswürdigkeiten vorbei und nahm dabei meine Stadt kurioserweise ganz anders wahr. der Blick wurde freundlich ein bildungsbürgerlicher und distinguiert, denn eine geführte Gruppe nimmt viel Platz auf den Gehsteigen ein, so dass Passanten stets ausweichen und sogar Autos anhalten, wo eine Strasse überquert wird. man ist bei einer konzilianten Konversation Masse und Macht und keinesfalls kafkaesk.
jeder Stein, der in einer Stadt verbaut wird, ist eigentlich uralt, ein historisches Unikat, nur das Organische löst sich mit dem entsprechenden Alter unwiederbringlich auf. der in Berlin umherwandelnde Globetrotter interessiert sich selten für die lokalen Kreaturen, obwohl sie im aktuellen Hier und Jetzt interessantere Details offenbaren. die Frauen der käuflichen Liebe zum Beispiel werden in Berlins Mitte immer grösser und mit Korsett schlanker. sie überragen ihre Freier um mindestens einen Kopf, wenn sie mit ihnen zu ihrem Stundenhotel staksen. mich ignorieren sie, so ich ihnen wohl nicht bedürftig genug oder zu wenig zahlungskräftig erscheine. sie sehen mir nicht an, dass ich gleichfalls eine verlorene Seele in mir trage. als einsamer Spaziergänger bin ich ein unfreiwilliger Zuhörer ihrer Anbahnungsgespräche und ratlos in meinem Verharren. immer noch erhoffe ich mir eine ausserordentliche Ablenkung und führe ein Vielfachleben, in dem ständig Alternativen gesucht werden.