mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

als Kind bewunderte er Kranführer. in seinem Wohnbezirk standen einige, um auf dem Campus einer Ingenieurhochschule Betonplatten für Studentenheime aufzutürmen. die Kräne waren nicht sehr aufragend, aber hoch genug, um einen besseren Blick als von einem Klettergerüst oder Baum zu versprechen. wer die Welt aus der Froschperspektive wahrnimmt, sehnt sich nach der Aussicht von ganz oben, den Überblick auf das Ganze. bisher hat er es nicht geschafft in eine luftige Kanzel zu steigen und darf es ja nicht ohne Genehmigungsschein. dennoch ist es möglich, selbst bei den gut gesicherten Baustellen auf einen zu klettern. im letzten Sommer gelang es wieder einem verrückten Besteiger. jener hat sich den höchsten Kran in Berlin ausgesucht, einen vor der zu renovierenden Charité, und da die Polizei meinte, dass es ein Terrorakt sein könnte, wurde das nähere Umfeld evakuiert. ebenso die Schule von seinem Sohn, der sich über einen freien Tag freute.
lange versprach die Kunst ihm Höhenflüge. derweil frustriert sie ihn in Ausstellungen und ebenso bei der eigenen Arbeit im Atelier. das Imaginäre scheint ausgereizt und kann mit formgebenden Weiterentwicklung kaum noch die Welt deuten. wo ständig ein neuer Hype die Aufmerksamkeit blendet, erschöpft sich Innovatives schnell. die Postmoderne hat durch ein trashiges Kombinieren Ansprüche relativiert und dazu geführt, dass sich die Kunst wieder unverhohlen mit den Interessen des Geldes arrangiert. es werden eingängige Bilder gemalt, um steigende Unkosten zu bestreiten und um bei einem Überangebot an Kunst in den öffentlichen Kanälen präsent zu bleiben. das bildend Kreative hat einen visionären Telos aufgegeben und behauptet kein Hypokeimenon mehr. einzig Kuratoren profilieren sich zielgerichtet bei einem inflationären Ausstellungsangebot. sie ordnen eine ausufernde Bilderwelt zu einem überschaubaren Zeitgeist oder arrangieren Highlights für Retrospektiven. unbefriedigend bleibt es für den Nachwuchs im Kulturbetrieb. inmitten von schwarzer Materie und dunkler Energie versuchen sich junge Talente als Dompteure des Nichts zu behaupten. ingeniöse Provokationen, die einst zu Quantensprüngen führten, laufen heute zu schnell ins Leere.
kleine Höhenflüge erlaubt er sich inzwischen nur noch beim Denken. dafür benötigt er lediglich eine Leiter. mit ihr erreicht er die auf einem hohen Bücherregal deponierten Philosophen. sie bilden das Dach seiner häuslichen Bibliothek und sind nicht sofort greifbar, auf dass er sich nicht zu häufig im Sinnieren verliere. er ist dann für mehrere Stunden vom Arbeiten abgelenkt, während unzählige angefangene Projekte auf ihn warten und er sich einbildet, es seien welche mit vertrackt philosophischen Problemen, die er ewig vor sich herschieben muss.