mikado als symptom


(eine vage klarstellung)

wo Menschen martialisch Spiele spielen, langweilen sie sich nicht. in einer sozial befriedete Gesellschaft braucht es den kathartischen Kitzel, um emotionale Gemeinschaftsgefühle aufkommen zu lassen. in einer computerlosen Kindheit mass man sich einfach beim Mikado. es war im Schulhort oder an familiären Wochenenden zu Hause keine ablenkende Zerstreuung, sondern ein gesellschaftliches Symptom. man musste vorsichtig sein, Stäbe behutsam wie ein Minensucher herausziehen oder präzis wegrollen und wagemutig sein. eine falsche Berührung und schon war die Niederlage unabwendbar. man lebte in einem kalten Krieg, in dem sich die einstigen Besatzungsmächte in Manövern provozierten und ein Wettrüsten immer gefährlichere Ausmasse annahm. jeder wusste, dass eine falsche Reaktion einen atomaren Erstschlag auslösen konnte und lebte demgemäss sensibilisiert.
das Mikado-Spiel ist noch immer in Läden zu finden, obwohl aufregend Kämpferisches für den Computer oder einen grossen Bildschirm verlangt wird. um den geographischen Horizont zu erweitern, hat er als Kind das in der Schule verbotene Länderklauen gespielt, um imaginär unerreichbare Kontinente zu bereisen. auf einem Schotterplatz wurde ein Kreis gezogen und in Länder eingeteilt, die dann ein geworfener Stock nach und nach okkupierte. mit anderen Schülern reterritorialisierte er den Erdkreis, bis die Erzieher das Treiben monierten, obwohl es ein naives, überhaupt nicht chauvinistisches Treiben war. zu viele miserable Kriegsfilme, die ideologisch verbrämt den zweiten Weltkrieg perpetuierten, hatten die Lust an Gewaltspielen verleidet. Aggressionen lebte man lieber im Sport aus, bei Kissenschlacht, beim Mau-Mau... oder beim Schach, für das er später unzählige Stunden opferte, um die richtigen Eröffnungen mit ihren Nebenwegen auswendig zu lernen. auf die Dauer war es zu anstrengend und liess wenig Energie für andere Projekte übrig. dem Philosophen Hans Jonas erging es als Student ebenso. er musste das Spielen aufgeben, um wieder zum Sinnieren zu kommen. Brecht und Benjamin probierten Stellungen auch nur eine Zeitlang aus und verewigten sich dabei als Profis auf Fotos.
nach dem kalten Krieg traf er Bekannte, die sich zu Rollenspielen in Wohnungen verabredeten und sich dafür entsprechend kostümierten. irgendwann wurde solches vor dem Computer solo bestritten und bei den Kids überall mit einem Gameboy. für sie werden unentwegt neue Kampf- und Fantasiespiele programmiert. es stört sich kaum noch jemand an der Routine der Grausamkeiten, sogar feinfühlige Leute haben sich daran gewöhnt und akzeptieren, dass sie ständig etwas auf ihren Bildschirmen killen oder mit Laserschwertern zerstückeln. man lebt in einer atomisierten Gesellschaft, in der jeder sich vor dem wirklich Negativen, den harten Existenzfragen abschirmt. er hat sich deswegen wieder das Mikado zugelegt und spielte es in der Silvesternacht mit der Familie, als die Böller krachten, und es gelang bei dieser Geräuschkulisse noch ziemlich gut.